Maßstäbe. Helmut Lauschke
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Der Kinderpsychologe Wolfgang Bebenau führt in seinem Referat das Folgende aus: “Auf die rasche Verwundbarkeit der Familien und ihre kritisch-bedrohlichen Situationen ist wiederholt hingewiesen worden. Was den meisten Familien abhanden gekommen ist, ist das Gespräch zwischen den Eltern und den Kindern. Die Menschen in der Familie haben sich kaum oder nichts mehr von Wert zu sagen. Sie sind unfähig geworden, einen Gedanken in seiner Vollständigkeit und dann verständlich auszusprechen. Dasselbe gilt für das Aussprechen der Empfindungen und der Gefühle. Da es die Eltern nicht oder nicht mehr tun, weil sie es nicht wollen oder nicht mehr können, ist das Gespräch verkümmert und die Kommunikation auf die Ebene vegetativer ‘Banalitäten’ abgerutscht. Darunter leiden vor allem die Kinder, die in solchen Familien vereinsamen, verwahrlosen und sich von den Eltern nicht verstanden und daher fremd und haltlos fühlen. Langfristig gehen die Kinder aus solch verstummten Familien mit oft bleibendem Bildungs- und Persönlichkeitsdefizit hervor, das auch die Schule nicht füllen kann. Das Bildungsdefizit ist so grundlegend und prägend, dass die Kinder den Wert und Inhalt der schulischen Ausbildung nicht begreifen und die Leistungen, die zu bringen sind, nicht bringen. Je nach Schwere und der körperlich-geistigen Verfassung bezüglich der Tragfähigkeit der familiären ‘Stumm’- oder Stress-Situation hat das Kind das Schuljahr zu wiederholen, was in der Regel auch nicht zu einem Leistungsanstieg führt. Dieses Defizit begleitet das Kind durch die Jahre von Schule und Jugend und den erwachsenen Menschen schließlich durchs ganze Leben.
Es ist das Mangelsyndrom, das die Familien wie die Gesellschaft als Ganzes erfasst und aus den Fugen reißt. Das Syndrom setzt sich aus den folgenden Symptomen zusammen:
1) Geprächsmangel und Mangel der Beziehungsbekundung und Beziehungsbereitschaft innerhalb der Familien mit der Vereinsamung voreinander und der Verwahrlosung unter- und gegeneinander;
2) Verlust der gegenseitigen Verantwortung. Das Nicht- oder Nicht-mehr-erkennen des Tragenmüssens der Verantwortung mit dem Kapazitätsverlust, Verantwortung zu tragen, tragen zu wollen und tragen zu können;
3) Das ‘ausdrückliche’ Schwinden der Zusammengehörigkeit im Denken, Fühlen und Aussprechen mit der Lockerung und Ausgleisung der besonderen Bindung der Ehepartner zueinander und innerhalb der Familie mit der Austrocknung und Verödung der Sprache führt zur Verengung der Gedankenwelt, zur Verkümmerung der Gefühlswelt, zur melancholischen oder leeren Vereinsamung mit dem Absinken und der Verstockung seelischer Abläufe und dem Defizit an Menschlichkeit und Mitmenschlichkeit.
Das Mangelsyndrom ist Ursache ehelicher und familiärer Zerwürfnisse und Zerrüttungen. Wenn das ‘Vitamin’ der Liebe und Zusammengehörigkeit mit dem Füreinander-dasein fehlt, dann ist auch der Wille gebeugt, der gerade jetzt nötig ist, um die innere Kraft zu entfalten und den Mut aufzubringen, die existentielle Krise durchzustehen und nicht in die Sackgasse der Verzweiflung mit der steinschweren Depression hinabzusinken. Wird das Mangelsyndrom mit dem menschlichen und mitmenschlichen Defizit auf die Gesellschaft der Gegenwart projiziert, dann werden die Zerfallserscheinungen durch die leere oder fehlende Nachbarschaft mit der gegenseitig interesselosen Gleichgültigkeit, der zunehmenden Verfremdung und Vereinsamung verständlich. Die Menschen haben sich nichts zu sagen, fühlen nichts füreinander und verharren in der Ödnis der gegenseitigen Bezugslosigkeit. Die Gesellschaft ist zu einer Verdauungsgesellschaft abgesunken. Die Menschen eilen zur Arbeit und wieder nach Hause. Sie sprechen vom Stress. Vom Wert und der Bedeutung der Arbeit sagen sie wenig, meistens gar nichts.
Da die Wurzeln des Zerfalls in die Familien reichen beziehungsweise dort ihren Ursprung haben, müssen die Probleme in den Familien behandelt und gelöst werden. Das heißt, dass die Lösung in den Familien liegt und dort zu suchen ist. Das Gespräch muss wieder in Gang kommen und einen Inhalt bekommen, nämlich den Inhalt, dass die Familie der Schutzhort für die Familienmitglieder ist, wofür jeder seinen und ihren Beitrag zu leisten hat. Ohne das klärende Gespräch und den täglich neuen und aktiven Beitrag kann eine Familie nicht in den Zustand der ‘Schutzburg’ gebracht und auch nicht am Leben erhalten werden. Die Familienbande müssen neu erkannt und zur Gesundung und Stärkung der Familie und eines jeden Familienmitglieds neu geknüpft werden. Die Kinder müssen das Gefühl der Geborgenheit bekommen, das nur über das gegenseitige Achten und Beachten auf der Brücke der aufmerksamen Begegnung und des Miteinander-sprechens mit dem Zuhören und Verstehenwollen geht. Die Behandlung der kranken Gesellschaft hat deshalb in den Familien zu beginnen. Die Werte der Familie müssen neu entdeckt, verstanden und geformt werden. Die Renaissance der Familie ist vonnöten, wenn die Gesellschaft gesunden soll. Das Gespräch in der Familie muss den hohen Stellenwert bekommen, um die rasante Bildungstalfahrt zum Halten zu bringen und den Menschen aus der Sackgasse des Lärms und der inneren Leere mit der trostlosen Vereinsamung herauszuholen.”
Pfarrer Bardenbrecht dankt dem Kinderpsychologen für sein Referat und bittet den Schuldirektor um seinen Vortrag. Herr Schucht führt aus: “Ich stimme den Ausführungen des Kinderpsychologen voll und ganz zu. So lange es in den Familien nicht stimmt, kann es auch in den Schulen nicht stimmen. Das Kind muss in geordneten Verhältnissen aufwachsen, um in der Ordnung der Schule den Lernstoff vermittelt zu bekommen und das Rüstzeug der Bildung für das Leben in sich aufzunehmen. Die primäre Erziehung des Kindes fällt in den Verantwortungsbereich der Eltern, die diese Aufgabe wahrzunehmen und zu erfüllen haben. Es ist zu beklagen, dass die erzieherische Verantwortung nicht nur im Argen liegt, sondern dass sie von Jahr zu Jahr schlechter wird. Doch die Eltern können sich aus dieser Verantwortung nicht verdrücken oder fortstehlen. Es sind doch ihre Kinder, die zu selbstbewussten kritischen Staatsbürgern herangebildet werden sollen. Das verlangt den vollen Einsatz der Schule wie der Eltern. Die Eltern haben sich für das Kind mehr als bisher zu interessieren. Das Kind verdient die volle Aufmerksamkeit der Eltern. Das Bildungsgespräch muss im Elternhaus einsetzen und kontinuierlich fortgesetzt werden. Die Hausaufgaben müssen durchgesehen und in einer konstruktiven Weise mit dem Kind durchgesprochen werden. Auch das gehört in den Erziehungsbereich der Eltern. Die mangelnde Erziehung kann nicht noch den Lehrern angelastet werden, die mit ihrem Bildungsauftrag voll ausgelastet sind. Die Eltern müssen sich selbst viel mehr in die Verantwortung nehmen, statt ihr Leid über den nachlassenden Fleiß ihres Kindes und andere Probleme bezüglich der Disziplin beim Lehrer zu beklagen. Der Lehrer ist kein Ersatz für den fehlenden Erzieher. Er kann auch nicht verantwortlich gemacht werden für die missratene oder ‘vergessene’ Kindererziehung. Ich sage es aus der langjährigen Erfahrung in den Elternabenden, wo sich Eltern über das schlechte Verhalten und den mangelnden Fleiß ihrer Kinder beklagen. Da scheuen sich die Eltern nicht, die Schuld für das schlechte Erziehungsresultat der Schule im Allgemeinen und dem Klassenlehrer im Besonderen zu geben.
Aber so kann doch die Erziehung weder aussehen noch weiterhin vernachlässigt werden, wie es viele Eltern tun. Die Eltern sollen die Klagen vor dem Spiegel vorbringen und sich bei der Antwort auf die Fragen bezüglich der mangelnden Disziplin und des nachlassenden Fleißes ihrer Kinder in die eigenen Augen sehen. Denn ohne den elterlichen Erziehungseinsatz am Kind gibt es in der Schule keine guten oder befriedigenden Ergebnisse. Es muss das Gespräch geben, das die Eltern mit den Kindern führen. Denn ohne das Gespräch, was in vielen Familien die bedauernswerte Tatsache geworden ist, läuft überhaupt nichts. Die Schule bleibt eine Lehr- und Lerneinrichtung. Sie ist keine Erziehungsanstalt für zu Hause nicht erzogene oder schwer erziehbare Kinder. Die Aufgabenteilung zwischen Eltern und Lehrern ist unverzichtbar. Die Aufgabe der Schule ist klar definiert: Sie soll den Schülern die Bildung vermitteln, die sie fürs Leben brauchen, und sie zu verantwortungsbewussten Staatsbürgern heranzubilden.
Wenn die Dinge im Elternhaus in Ordnung gebracht sind, dann gibt es auch in der Schule die besseren Leistungen und Noten, die erforderlich sind, um aus den Kindern das zu machen, was für einen verantwortungsbewussten Staatsbürger erforderlich ist. Die Anstrengungen sind groß, um das Ziel zu erreichen. Doch Schüler, Eltern und Lehrer haben sich der Aufgabe zu stellen