Maßstäbe. Helmut Lauschke

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Maßstäbe - Helmut Lauschke

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verstecken, während die anderen der Not und dem Elend schutzlos ausgesetzt sind. Auf beiden Seiten verkommt die Menschlichkeit: beim Verstecken der Reichen hinter den Bergen des Reichtums durch das Augenschließen vor den Menschen in Not und auf der andern Seite vor den Hütten der Armut in ihrer bedauernswerten und erbärmlichen Offenheit, was alles zum Leben fehlt. Die Menschlichkeit setzt voraus, dass die Mägen einmal am Tag eine warme Mahlzeit brauchen, wenn den Köpfen nicht das Hören und Sehen vergehen soll, weil der Blutzuckermangel das Bewusstsein trübt.

      So wie die Gerechtigkeit mit der Menschlichkeit einhergeht, so schließt das Unrecht der Ungerechtigkeit das Prinzip ‘Menschlichkeit’ samt ihrer Herkunft aus. Das Eine gilt dem Mit- und Füreinander, das Andere führt zum Gegeneinander. Wie bereits gesagt wurde, gibt es keine Armut ohne Schuld. Sie ist entweder selbst- oder fremdverschuldet. Im Kern der Armut ist das Ringen ums Überleben. Der Ringende braucht in der Daseinsnot die Mitmenschlichkeit, was die praktizierte Menschlichkeit des Helfens ist. Menschen helfen auch dann, wenn es ihnen selbst existentiell so gut gar nicht geht. In dieser Mitmenschlichkeit liegt das Prinzip des Teilens, dass jeder auf den Beinen bleibt und ein Stück Brot zum Leben hat. Dagegen liegt in der Ungerechtigkeit die blinde Raffgier mit dem Horten der Güter, was bis zum Ekel des aufsitzenden Geiers führt. Wenn das mit dem Überleben immer fraglicher und das Leben immer dürftiger wird, dann folgt dem Kraftverlust im Ringen die Bitternis der Not mit der Verzweiflung, dass der Kampf ums Überleben verloren wird beziehungsweise schon verloren ist.

      Es steht außer Frage, dass die Arbeitslosigkeit härter denn je in das Leben der Familien eingreift. Da sind Spannungen aufgrund der Frustration des Mannes, der nach Arbeit sucht, aber keine Arbeit findet. Die Sozialhilfe, wenn sie überhaupt zur Anwendung kommt, zwingt vor allem die Rentner und kinderreichen Familien, den Lebensgürtel immer enger, zum Teil so eng zu schnallen, dass die Grundbedürfnisse nicht mehr befriedigt werden können. Es kommt zu Auseinandersetzungen, was bei der prekären Geldknappheit noch gekauft werden soll, aber nicht gekauft werden kann. Die Grenze der Scham wird überschritten, wenn die Auseinandersetzungen vor den Kindern ausgetragen werden, was zur Verunsicherung führt, dass die Kinder das Vertrauen in die Eltern und das Gefühl der Geborgenheit in der Familie verlieren. Schlafstörungen, Appetitlosigkeit und Konzentrationsschwächen sind die Folgen, die sich im hohen Maße negativ auf die Entwicklung des Kindes auswirken. Wie schon erwähnt, gehen Jugendprostitution und Jugendkriminalität mit der Arbeitslosigkeit und dem eng geschnürten Existenzgürtel parallel einher. Bis zur Drogenszene ist es nur ein kleiner Schritt, der für den Einzelnen wie für die Gesellschaft als Ganzes von großer Bedeutung ist.

      Die Antwort auf die Frage, wer die Verantwortung für den Zerfall zu tragen hat, ist aus soziologischer Sicht oft sehr schwierig, weil die individuell-sozialen Beziehungen so vielseitig und ineinander verknüpft sind. Die Konflikte haben ihre Vorgeschichte, und je länger sie ist, desto schwieriger ist es, die Problemzöpfe zu entflechten. Das soziale Problem wird durch die hohe Jugendarbeitslosigkeit weiter erschwert, von der besonders die Berufs- und Hochschulabgänger in großer Zahl betroffen sind. Die klaffende Schere zwischen arm und reich und die Erfahrung, dass sich die ungleichen Verhältnisse in absehbarer Zeit nicht angleichen werden, führen zur Frustration und Resignation. Der Einzelne steht der Arbeitsplatzstreichung wehrlos gegenüber. Diese Negativentwicklung führt zur Radikalisierung der Jugend, die der Politik der Rechtsstaatlichkeit misstraut und den tönenden Politikern kein Wort glaubt.

      Um beim Bild zu bleiben: Das Band der Mitmenschlichkeit ist zwischen den klaffenden Scherenblättern überspannt und zerrissen worden. Die Gründe der familiären und gesellschaftlichen Zerreißungen reichen von den ökonomischen Veränderungen bis zum Bildungsmangel, von der Willensschwäche über die ausbleibende Motivation und den mangelnden Arbeitseinsatz bis zum Angstmonster, die Verantwortung für das Desaster zu tragen beziehungsweise aufgehalst zu bekommen.”

      Pfarrer Bardenbrecht dankt für das Referat und bittet den Leiter des Arbeitsamtes, Herrn Ungelenk, um den letzten Vortrag.

      Er führt aus: “Vieles wurde gesagt, dass für mich nur wenig zu sagen bleibt, um das Bild über den gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft abzurunden. Ich stimme der bisherigen Bildbeschreibung mit den Rissen und Verwerfungen zu, die von unten nach oben durch alle Gesellschaftsschichten ziehen und das Leben jedes Einzelnen berühren und zum Teil hart erschweren. Es sind vor allem die jungen Menschen, die nach Schul- und Hochschulabschluss einen Arbeitsplatz suchen, aber nicht finden. Wir bemühen uns, den Menschen bei der Arbeitsplatzsuche zu helfen. Doch oft stellt sich die deprimierende Situation ein, dass ein Arbeitsplatz noch nach Monaten nicht gefunden wird, der den Qualifikationen der Schulabgänger entspricht. Junge Akademiker arbeiten im Postamt, auf dem Bau oder als Gelegenheitsarbeiter und Taxifahrer, um das Geld zu verdienen, das zum Leben gebraucht wird, aber zum Leben meist nicht reicht. Der anfängliche Optimismus auf den Gesichtern der Arbeitsuchenden weicht nach Monaten den düsteren, pessimistisch blickenden Gesichtern. Die Menschen glauben nicht mehr daran, dass es für sie Arbeit in dem Land gibt, in dem sie geboren und aufgewachsen sind. Was uns im Amt beim Versuch, einen Arbeitsplatz zu vermitteln, noch auffällt, ist die Feststellung, wie aus klaren und sauberen Gesichter nach Monaten der frustrierenden Wartezeit ungepflegte, quasi verkommene Gesichter werden. Junge Menschen kommen mit Bärten und sehen nach Monaten vorgealtert und runtergekommen aus, denen man die Schul- und Hochschulqualifikationen kaum oder nicht zutraut. Der Gruppe der Arbeitsuchenden steht die Gruppe der Arbeitsverweigerer gegenüber, die sich in das Heer der Sozialfälle rekrutieren und sich das Nichtarbeiten vom Staat bezahlen lassen. Die Unterhaltung des Arbeitslosenheeres kostet dem Staat jährlich viele Milliarden, die der Steuerzahler aufzubringen hat. Der asoziale Aspekt gilt für beide Gruppen. Für die Arbeitsuchenden ist es das System des Kapitalismus, und für die andern im großen Heer der Sozialfälle ist es die Arbeitsscheu beziehungsweise Arbeitsverweigerung des Einzelnen.

      Die Stellenvermittlung ist schwierig, wenn es für die Gruppe der Arbeitsuchenden keine Stellen gibt, die den Qualifikationen entsprechen, und die angebotenen freien Stellen von der anderen Gruppe mit immer neuen ‘Argumenten’ ausgeschlagen werden, dass der Zweifel aufkommt, ob bei jenen Menschen überhaupt der Wille zur Arbeit besteht. Es gibt wenig Zweifel, dass die Gesellschaft unter der Profitmaximierung, was Inhalt des Kapitalismus ist, krank geworden ist und tiefe Risse aufweist, die durch alle Schichten des Volkes ziehen. Die Menschlichkeit ist rar geworden, wenn Menschen ums Überleben ringen. Das Tragenwollen der Verantwortung ist verkümmert. Jeder sucht die Schuld woanders, nur nicht bei sich. Die Konsequenzen, die aus dem Sich-unsichtbar-machen mit der Angst resultieren, zumindest die Teilverantwortung für die prekäre Situation zu übernehmen, gehen mit dem Mangel der praktizierten Menschlichkeit und dem Grassieren des allgemeinen Misstrauens einher. Die Friktion mit den quer durch die Gesellschaft ziehenden Existenzrissen, wie sie auf dem Arbeitsmarkt bei der zunehmenden Arbeitslosigkeit zu beobachten ist, brennt, wenn ich das zweite Bild gebrauchen darf, den noch verbliebenen Rest an Menschlichkeit nieder.”

      Missionspfarrer Bardenbrecht dankt für das Referat und eröffnet die Diskussion.

      Ein Herr im mittleren Alter sagt: “In den Referaten wurde wiederholt darauf verwiesen, dass das Gespräch in den Familien verstummt beziehungsweise abhanden gekommen sei. Ist denn die Annahme so abwegig, dass die Schwere der Existenzkrise den Menschen die Sprache so verschlagen hat, dass er sprachlos geworden ist, wenn er am mager gedeckten Tisch anderen Menschen gegenübersitzt?”

      Der Kinderpsychologe antwortet: “Für den Erwachsenen mag die existentielle Krise zur Sprachlosigkeit führen, weil er das Problem aus eigener Kraft nicht lösen kann. Aber die Sprachlosigkeit am Familientisch muss ihre Grenzen haben, wenn Kinder mit am mager gedeckten Tisch sitzen. Denn die Kinder wollen wissen, wozu sie doch berechtigt sind, was es mit dem Tisch auf sich hat, der so mager gedeckt ist, dass er den Hunger nicht mehr stillen kann. Das muss den Kindern in einer ruhigen und verständlichen Sprache erklärt werden. Kinder sind gute und verlässliche Kameraden auch dann, wenn das Leben der Familie Probleme aufgibt, die unlösbar erscheinen. Deshalb hat das Gespräch die elementare Bedeutung der Verständigung mit dem Verständlichmachen der Probleme, warum die Existenz der Familie bedroht ist.”

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