Maßstäbe. Helmut Lauschke

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Maßstäbe - Helmut Lauschke страница 9

Автор:
Серия:
Издательство:
Maßstäbe - Helmut Lauschke

Скачать книгу

mit den fehlenden oder defekten Klimaanlagen den nicht-namibischen Ärzten überlassen. Wo ist der viel gesprochene Patriotismus zum Wohle der Menschen? Das Absetzen nach ‘oben’ schließt das Absetzen von den Nacht- und Wochenenddiensten ein. Es ist kein Zweifel: Die besseren Posten mit der höheren Bezahlung und dem Mehr an Sagen in den bequemen, klimatisierten Büros waren vornehmlich den namibischen Exil-Ärzten vorbehalten, während die harte Arbeit am Patienten unter den extremen Bedingungen für die anderen Ärzte blieb. Da kommt die Frage auf, was in dem afrikanischen Land unter Gleichheit, Verantwortung, harter Arbeit, Fairness, Kollegialität und so weiter verstanden wird, und wie diese Art der Arbeitsauffassung mit der “Arbeitsteilung” noch weitergehen soll und kann. Wenn es aber um Privatpatienten geht, da werden die namibischen Ärzte doch aktiv. Das Geld hat für sie die Anziehungskraft, die der Patient mit den leeren Händen für sie nicht hat. Die alte Weisheit bestätigt sich aufs Neue: Über Gleichheit, Verantwortung, Disziplin und Bescheidenheit wird viel geredet. Doch die, die am meisten darüber reden, das Reden dann noch berufsmäßig tun, praktizieren es am wenigsten. Die Scherenblätter klaffen zwischen der schlichten Ehrlichkeit und der politisch-opportunistischen Großmäuligkeit; sie klaffen weit zwischen der Wahrheit und der Lüge. Es braucht die tiefere Einsicht in die Werte afrikanischer Traditionen, um das zu verstehen in einem Land, dem so viel Sympathie entgegengebracht und materielle Unterstützung gewährt wurde in den Jahren nach seiner Unabhängigkeitswerdung.

      Es ist die Zeit, als in Darfur Millionen aus ihren Dörfern vertrieben werden und Hunderttausende den Hungertod sterben. Es ist die Zeit, als im Osten der Demokratischen Republik Kongo erneut die Machtkämpfe ausbrechen. Ruandische Tutsi-Rebellen kämpfen gegen die kongolesischen Regierungstruppen. Menschen werden aus ihren Dörfern und Städten vertrieben. Der Flüchtlingsstrom schwillt auf mehrere Hunderttausend an. Eine weitere afrikanische Katastrophe ist unter den Augen der Welt in vollem Gange. Afrika ist der Kontinent der reichen, der sehr reichen und sich trotzdem weiter bereichernden Präsidenten und der hungernden, in bitterer Armut vegetierenden Völker und der ständigen Kriege um die Bodenschätze und die Macht.

      Die andere Merkwürdigkeit ist die hohe Selbstmordrate junger Menschen nach der Unabhängigkeit, die offensichtlich den Glauben in die bessere Zukunft verloren haben. Unter ihnen finden sich Schulabgänger mit Matrik und Studenten am Polytechnikum und der Universität. Es ist die hohe Arbeitslosigkeit und die Verfilzung der höheren Posten durch Vetternwirtschaft und andere skrupellose Machenschaften, die die Sicht mit der Aussicht auf einen Arbeitsplatz trüben, der dem Bildungs- und Ausbildungsstand entspricht. Das Prinzip Hoffnung und das Prinzip Verantwortung sind noch nicht bis auf den Stand der Zeit entwickelt, der nötig ist, um ein wirkliches Vertrauen in die Zukunft in der jungen Generation aufkommen zu lassen. Schamlose Korruption und rücksichtslose Selbstbereicherung der an den Hebeln der Macht Klebenden und Sitzenden haben gegen alle großmäuligen Reden, Bekenntnisse und Versprechungen die dunklen Wolken der existentiellen Unsicherheit auf die Straße der Zukunft gebracht.

      Dem ständigen Anziehen der Kostenschraube für die ganz normale Lebenshaltung ohne jeglichen Luxus folgt die Skepsis, dass sich an den Verhältnissen der immer wieder gesprochenen Gleichheit und staatlich praktizierten Ungleichheit durch Korruption und Vetternwirtschaft in absehbarer Zeit etwas ändern wird, zumindest nicht, so lange die erste Garde der “Gefräßigen” sich weiter bereichert und sich mit den großen Worten vom heroischen Befreiungskampf die Hebel der Macht nach ihrer Willkür und zu ihrem Vorteil hin und her schaltet und zuschiebt. Diese “VIPs” sind von “hungrigen” Exilveteranen und von opportunistischen Speichelleckern umringt und umschwärmt, die in zweiter Front den Rest der Sahne für sich abschöpfen und sehr genau darauf achten, dass der ihnen zugesprochene Rest nicht vom Volk mit dem nagenden Existenzdruck durch die hohe Arbeitslosigkeit und den ständig steigenden Lebenshaltungskosten durch das lauthals verkündete Prinzip der Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit reduziert oder vorher weggelöffelt wird. Es ist die Jugend, die nach Vorbildern verlangt und die Frage immer lauter stellt: “Was soll aus uns werden, wenn das so weitergeht mit der Korruption und Vetternwirtschaft?”

      Dr. Fernandez hat die letzte Operation beendet und legt den Wundverband auf. Die OP-Liste hat sich durch den Notfall-Kaiserschnitt hinausgeschoben. Die Mittagszeit ist fast vorüber, und Dr. Fernandez eilt sich, um im Speiseraum noch etwas auf den Teller zu bekommen.

       Sie sank, weil sie zu stolz und kräftig blühte! [Heinrich von Kleist: Penthesilea]

      Das Samstagabendgespräch

      Der Verein zur Rettung Schiffbrüchiger und von Straßenkindern hat zum halbjährlichen Gespräch in den Saal der inneren Mission eingeladen. Diese Gespräche, die vor einigen Jahren vom Missionspfarrer Peter Bardenbrecht ins Leben gerufen wurden, sind zu einer festen Institution in der Stadt geworden. Pfarrer Bardenbrecht, ein schlanker hochgewachsener Herr der Endfünfziger mit vollem ergrauten Haar, begrüßt die Ankommenden mit Handschlag und erkundigt sich nach ihren Leben. Dabei sagt er, um den Menschen Mut zu machen, den Standardsatz: Wenn Gott an den Menschen so zweifeln würde, wie die Menschen an Gott zweifeln, dann wäre er sich sicher, dass morgen, spätestens übermorgen die Menschheit sich ganz umgebracht hätte.

      Der Saal hat sich über die Hälfte gefüllt, als Pfarrer Bardenbrecht das Abendgespräch kurz nach halb acht eröffnet und die Anwesenden herzlich willkommen heißt. Er stellt das Thema des Abends vor und schickt dem Gespräch die ersten Verse des 106. Psalms voraus:

      Danket Ihm, denn gütig ist Er,

      und seine Huld währt in Weltzeit.

      Wer kann die Größe seiner Taten ermessen

      und all seine wunderbaren Werke preisen?

      Glück sei ihnen, die das Gebot halten

      und vom Weg der Bewährung nicht abweichen.

      Denk mein, Du, in der Gnade zu deinem Volk,

      wirke mir entgegen, befreie mich!

      Ansehen möcht’ ich das Wohl deiner Erwählten,

      mich erfreuen an der Freude deines Volkes.

      Lass mich dein Erbteil und deinen Namen rühmen,

      auch wenn wir mitsamt unseren Vätern gesündigt haben.

      Das Thema lautet: Die kranke Gesellschaft und der Mangel an Menschlichkeit, die gebrochene Tragfähigkeit der Verantwortung und die schwindende Mitmenschlichkeit und die Konsequenzen. Pfarrer Bardenbrecht stellt die geladenen Gäste hinter dem langen Tisch vor: den Kinderpsychologen Wolfgang Bebenau, den Direktor Karl Schucht von der Friedrich Ebert-Grundschule, die Familienrichterin Gerlinde Fabian, den Soziologen Gerd Lange und den Leiter des Arbeitsamtes, Klaus Ungelenk.

      In seiner Einführung weist Pfarrer Bardenbrecht auf die vielfältigen sozialen Probleme hin, die ihre Ursache in der anhaltenden hohen Arbeitslosigkeit und den Folgen der unerwartet schweren Rezession haben, die besonders die alten Menschen und die kinderreichen Familien treffen. “Das Problem der Straßenkinder sei bis auf den Tag nicht nur ungelöst, sondern habe in erschreckender Weise zugenommen. Kinderkriminalität und Kinderprostitution seien einige der herausragenden und beschämenden Schwindsuchtsymptome der kranken Gesellschaft dieser Zeit. Die Zahl der existentiellen Schiffbrüche sei horrend, und die Folgen der Zusammenbrüche seien nicht absehbar. Die apokalyptische Annahme sei nicht abwegig, dass der Gesellschaft eine Katastrophe bevorsteht, deren Ausmaß alle bisherigen Katastrophen in den Schatten stellt. Der Bildungs- und Glaubensverlust haben wesentlich dazu beigetragen, dass die Menschen dem Materialismus verfallen sind und nun nicht wissen, wie sie die existentielle Durststrecke durchhalten, beziehungsweise durchstehen und aus dem Flaschenhals der existentiellen Krise herauskommen sollen. Denn, und daran

Скачать книгу