Maßstäbe. Helmut Lauschke

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Maßstäbe - Helmut Lauschke

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vorschwebt. Denn altruistisch sehen die gut genährten schwarzen Gesichter nicht aus. So kommen Fragen auf, die offen nicht zu stellen sind, dass beim Versuch der Antwort auf die hypothetische Näherung im Sinne der Vermutung zurückgegriffen wird. Die Kollegen hüllen sich in Schweigen. Sie gehen der Kommunikation zur besseren Verständigung von vornherein aus dem Weg. Jeder stiert auf oder in die Tasse oder starrt gegen die weiß gestrichene Wand mit den gelben Altersflecken oder durch die Fensterfront der Trennwand in die entgegengesetzte Richtung, den Korridor mit den anrollenden und wegrollenden Patiententragen, den hin und her eilenden Schülern und Schülerinnen der Krankenpflege und den sich langsamer bis erstaunlich langsam bewegenden Schwestern der mehrjährigen Erfahrung und ihren angesetzten gesäßigen Gewichtigkeiten.

      Die erste Operation ist die Entfernung der Gebärmutter [Hysterektomie] bei einer 37-jährigen Patientin wegen unregelmäßiger Blutungen nach fünf Entbindungen, wovon zwei Fehlgeburten waren. Es ist heiß im OP. Der Schweiß tropft von der Stirn, dass die Narkoseschwester das Gesicht in kurzen Intervallen mit einer Kompresse trocknet. Während Dr. Fernandez die großen Gefäße des Uterus abklemmt, durchtrennt und unterbindet, schweifen seine Gedanken zu seiner Familie in Matanzas, der kleinen Stadt östlich von Havanna. Auch Margarita, seine junge Frau, leidet seit der Geburt des Sohnes George vor drei Jahren unter schmerzhaften Menstruationen mit starken Blutungen. Bei der Ultraschalluntersuchung wurden zwei Myome gefunden, die, wenn sie weiter wachsen, operativ entfernt werden müssen. Das hat sich Dr. Fernandez für den nächsten Heimaturlaub fest vorgenommen. Denn die Gebärmutter sollte Maragrita mit ihren 32 Jahren behalten, damit sie noch ein Töchterchen zur Welt bringen kann, vorausgesetzt, dass sich die allgemeine Lage auf Kuba bessert, was möglich ist, wenn die Administration in Washington unter dem neuen Präsidenten Obama die jahrzehntelangen Wirtschaftssanktionen gegen den sozialistischen Inselstaat lockert beziehungsweise aufhebt. Dr. Fernandez hat den Uterus bei der 37-jährigen Patientin entfernt und revidiert das OP-Feld, um letzte Blutungen durch Koagulation oder Gefäßunterbindung zum Stehen zu bringen. Dann vernäht er die Schichten der Bauchdecke und deckt die Wunde mit einem sterilen Verband ab.

      Die OP-Liste wird unterbrochen durch einen Notfall-Kaiserschnitt bei einer 19-jährigen Kreißenden mit einem fetalen Armvorfall. Ein “fliegender” Patientenwechsel erfolgt auf dem OP-Tisch im heißen OP-Saal. Die Schwester säubert die Bauchhaut der jungen Mutter bis zur Schamfuge, während Dr. Fernandez sich die Hände über der tiefen Zinkwanne in der Handwaschpassage wäscht, mit einigen Lagen Fließpapier abtrocknet, und darauf wartet, dass die Schwesternschülerin die Schlaufen des grünen OP-Kittels über dem Rücken verschnürt. Operateur und assistierende OP-Schwester beweisen erneut Erfahrung und Geschicklichkeit. Nach wenig mehr als zehn Minuten wird das Baby per Kaiserschnitt geboren. Außer dem Armvorfall, der der natürlichen Entbindung im Wege stand, hatte das Neugeborene, das ein Mädchen mit deutlichem Untergewicht war, noch einen angeborenen Wasserkopf, der den normalen Geburtskanal nicht passiert hätte. Die junge Mutter liegt in Narkose und hofft auf ein gesundes Kind. Dr. Fernandez schließt den Gebärmutterhals und die Bauchdecke und stellt sich den Schreck des Lebens dieser jungen Mutter vor, wenn sie aus der Narkose erwacht und das Kind mit der hässlichen Missbildung sieht und es als ihr Kind anzunehmen und an die Brust zu legen hat. So hält die Natur für jeden Menschen etwas Besonderes bereit. Der sterile Wundverband wird aufgelegt und die Mutter vom OP-Tisch auf die Trage gehoben und in den Aufwachraum gefahren.

      Die nächste Operation, die als zweite auf der Liste steht, ist die Entfernung eines tumortragenden Eierstocks mit Tubenligatur auf der anderen Seite bei einer 35-jährigen Frau im reduzierten Allgemeinzustand. Sie hat als Mädchen die Lungentuberkulose durchgemacht und sechs Jahre die erforderlichen Medikamente eingenommen. Die Patientin zeichnet sich durch eine erhöhte Intelligenz aus. Sie besuchte die Volksschule bis zur sechsten Klasse, kann die Zeitung lesen und über ihren Namen hinaus einige Sätze schreiben. Ihre Vorgeschichte ist afrikanisch: Sie war sechzehn, als der Klassenlehrer mit ihr im Hostel sexuell verkehrte. Sie wurde schwanger und musste die Schule verlassen. Zu ihrer Aufgabe gehörten das morgendliche und nachmittägliche Wassertragen vom Brunnen, die Feldarbeit und das Sauberhalten des Kraals. Sie brachte ein Mädchen zur Welt, das an einer Magen-Darminfektion mit zwei Jahren verstarb.

      Dr. Fernandez findet das Leben für die afrikanischen Frauen und Mädchen schwer bis unerträglich. Sie müssen hart arbeiten und werden von Männern, die ein vergleichsweise leichtes und faules Leben führen, zurückgesetzt, diskriminiert und geschlagen. Wo ist die Achtung vor der Frau und den Kindern? Wo ist der Respekt vor dem Menschen? Diese Frage stellt sich Dr. Fernandez jeden Tag, wenn er die Anamnesen der Patientinnen erhebt, sie untersucht und operiert. Er kann sich die Dichotomie nicht erklären, weil er die Frage nicht beantworten kann, ob die afrikanische Kultur so weit unterentwickelt ist, dass die Männer die Frauen schlecht bis unmenschlich behandeln, oder ob die Tradition in Bezug auf die sozialen Aspekte bereits verludert ist. Hinzu kommt die hohe Zahl von Gewalttätigkeiten an Frauen und Kindern, die große Zahl von Vergewaltigungen und Kindesmisshandlungen. Diese Art der Kriminalität nach der Unabhängigkeit Namibias wird begleitet von der rasanten Zunahme von Überfällen, schweren Raubüberfällen und Raubmorden sowie den zahllosen Einbrüchen und Diebstählen. Die Verbrecher bedrohen die Opfer mit vorgehaltenem Messer oder der Schusswaffe und stechen ein oder schießen rücksichtslos bei jeglicher Art von Widerstand. Was oft erstaunt ist die Tatsache, dass das Delikt des Diebstahls schwerer bestraft wird als der Tatbestand des vorsätzlich begangenen Mordes. Wo sind hier die Verbindungslinien zur afrikanischen Tradition, um zu verstehen, dass der Wert des menschliches Lebens so weit runter relativiert werden kann?

      Diese Art der Geschlechterdiskriminierung gibt es auf Kuba nicht und auch nicht die explosionsartige Zunahme der schweren Verbrechen. Doch gibt es auf Kuba auch nicht die so weit klaffende Schere zwischen arm und reich. Es sind nicht nur die Weißen, die in ihrer überwiegenden Zahl wohlhabend sind. In Namibia sind es mehr die Schwarzen in der Regierung und den staatlichen und halbstaatlichen Organisationen, die sich über die bereits überzogenen Gehälter und Zuschüsse noch zusätzliche Einkommen in die Taschen schieben, und das im vollen Wissen um die beschämend-erbärmliche Rentenzuteilung an die stillen, alten und wehrlosen Menschen im Lande. Dass die Frauen der Minister andere hohe Posten bei bester Bezahlung und weiteren Vergünstigungen beziehen, ist mit der Unabhängigkeit gang und gäbe. Die in Großsprüchen laut getönte Gleichheit und Gerechtigkeit sieht in der Praxis anders und kümmerlich aus, wo sich die durch parteiinternen Handschluss in den enormen existentiellen Vorteil Gebrachten der hohen Nomenklatura diametral von der Gesellschaft mit den harten Alltagsproblemen der hohen und weiter steigenden Arbeitslosigkeit absetzt. Selbstbereicherung, Vetternwirtschaft und Skrupellosigkeit der Leute, die das Sagen haben, sind an der Tagesordnung, als gehören sie zu den fundamentalen, unveräußerlichen Imponderabilien afrikanischer Traditionen und ihrer Erfolgspraktiken. Die afrikanische Renaissance geht einher mit dem erhöhten Quantum an Dickschädeligkeit und Durchsetzungskraft. Die Achtung vor denen, die es existentiell ‘geschafft und zum Wohlstand gebracht’ haben, ist afrikanisch noch immer und erstaunlich groß. Achtung und Mitgefühl für die Menschen in Armut und Not sind dagegen gering, vernachlässigt worden, verkümmert oder verlorengegangen.

      Der Inselsozialismus gibt gegenüber der afrikanischen Unabhängigkeitsgesellschaft doch mehr Gemeinsamkeit, Zusammengehörigkeit und gegenseitige Hilfsbereitschaft mit dem stärkeren Zusammenhalt. Für Dr. Fernandez ist es keine Frage, dass er sich in einem solchen Land wie Namibia nicht zuhause fühlen würde. Hinzu kommt das harsche, aride Klima mit den heißen Sommermonaten und die fremde, für ihn hart klingende Sprache mit den kantigen Konsonanten und die monotone Art des Sprechens. Überhaupt erscheint ihm der kulturelle Aspekt, den Namibia im Norden bietet, eintönig-trocken, ja armselig und von Grund auf entwicklungsbedürftig. Seine ärztliche Mission ist auf zwei Jahre festgesetzt, von denen er erst vier Monate hinter sich gebracht hat. Auch wenn es die zweite Mission ist, wird es eine schwere Zeit werden, ohne Margarita und seinen dreijährigen Sohn George die Zeit durchzustehen.

      Es stößt auf Widerstand, als medizinischer ‘Exportartikel’ in die Dritte Welt geschickt und ausgebeutet zu werden, wenn die namibischen Ärzte, die auf anderer Länder Kosten Medizin studiert haben, sich nach den ‘höheren’ und

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