Der Westwald. Lukas S. Kindt
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Und somit war ich ebenso verständlicherweise äußerst ungehalten, als ich sah, dass nicht nur das Dachfenster im Gang zersplittert war, sondern auch noch zu allem Überdruss ein gutes Stück vom Dach selbst fehlte! Frustriert und im ersten Moment unschlüssig blickte ich einmal zu den zahllosen Glassplittern am Boden, die im hereinscheinenden Mondlicht wie filigrane Diamanten aufblitzten und einmal nach oben, zum gewaltsam aufgebrochenen Dach. Die gezackten Ränder bogen sich jedoch seltsamerweise nicht nach innen – wie ich bemerkte - sondern nach außen. Wie als ob etwas das Dachfenster eingeschlagen hätte, um dann das Dach von innen an den Rändern zu packen und nach außen mit unbändiger Kraft aufzuziehen. Welche Hände oder Klauen so etwas bewerkstelligen mochten, war mir nicht bekannt...
Eine Gänsehaut überkam mich dabei urplötzlich bei solch fantasiereichen Gedanken mitten in der finstersten Nacht, obwohl solche Hirngespinste in der Regel äußerst fremd für mich waren. Immerhin hatte ich mein ganzes Leben als einfacher Büroarbeiter inmitten der drögen Hektik einer leblosen Großstadt verbracht und eine solch simple Existenz neigte dazu, irgendwann jegliche absurden Fantasien mitleidlos abzutöten, aber in diesem Moment konnte selbst ich nicht umhin, zuzugeben, dass etwas nicht mit rechten Dingen zugehen konnte. Ich schätze deshalb, dass auch ein unbedarfter Stadtmensch wie ich das krankhafte Miasma eines dämonischen Einflusses unterbewusst wahrnehmen kann; zumindest wenn dessen Quelle sich direkt über ihm befindet...
Doch wie auch immer: In diesem Moment sah ich in meiner Blindheit noch nichts und deshalb trat ich, ohne große Vorsicht walten zu lassen, in den dunklen Gang hinein. Der grelle Mond stand mittlerweile schon im hohen Winkel über dem Haus; dessen geisterhaft weißes Licht brach durch die grauen Wolken und schien durch das Loch im Dach kühl auf mein Antlitz. Die Zacken an den Rändern des Lochs und Teile von abgebrochenen Schindeln warfen bizarr tanzende Schatten in den Gang darunter hinein. Für eine Weile beobachtete ich also nur das Rauschen der Nadelbäume da draußen und hörte auf die Musik eines schlafenden Waldes. Ich war nämlich in meiner städtischen Naivität, die von altem Grauen und allen zeitlosen Warnungen davor nichts wissen wollte, ignorant demgegenüber, was es dort draußen gab, und dass dieses etwas niemals schlief und dass eben dieses etwas nur dafür lebte, um allen, die drinnen schliefen, die Augen mit Macht aufzutun.
Und hier, in diesem Moment voller stummer Ruhe und Leblosigkeit, inmitten der zertrümmerten Überreste meines alten Traumes sah ich dieses etwas zum aller ersten Mal. Denn es hatte mit sechs Händen das Fenster zerschlagen und mit dreizehn Beinen die Mauern zertreten, die es draußen halten hätten sollen. Ich riss die Augen auf:
»Ich sehe dich...«
Oh mein Gott! Oh mein Gott in den viel zu entfernten Himmeln! Es sprach! Furcht? Nein, es war keine Furcht, die ich jetzt empfand, sondern mehr das schmerzhafte Vereisen meiner Adern, das Schmelzen von Selbstsicherheit und das Auflösen aller materiellen Gewissheiten, die sich über die vielen Jahre meines Lebens voller nichtiger Arbeit langsam angesammelt hatten. Ja, es war nicht Furcht sondern Grauen; absolutes Grauen empfand ich nun, es spülte durch meine Adern, reinigte mich von allen Illusionen, die ich mir zu machen pflegte, wenn ich morgens ins Bett ging und abends aufstand. Es war ein Grauen, das man nicht besiegen konnte. Ich bewegte mich nicht und wie festgefroren musste ich dem Gesicht im Dachfenster gegenüberstehen. Ein Gesicht, dessen hämisches Grinsen allein es schaffte, meinen auswendig gelernten Materialismus innerhalb einer Sekunde zu zerbrechen und diesen ersetzte, durch ein grausiges Ahnen dessen, was seit Ewigkeiten hinter der papierdünnen Maske aus Logik und Vernunft lauerte. Ja, in diesem Moment, als ich die verzerrten und titanisch entstellten Lefzen meines begrabenen und verstorbenen Hundes, beschienen von geisterhaften Mondstrahlen und beleuchtet von glühenden Pusteln, sah, musste ich zugeben, ich hatte nichts gelernt in meinem Leben und würde genauso dumm sterben, wie ich ins Leben getreten war.
»Ich sehe dich«, sagte das Wesen erneut. Grünlich glühender Schleim strömte an den Lefzen herunter und platschte auf dem Fußboden, als es sich mit seinen dreizehn haarigen Insektenbeinen weiter in das Haus hineinlehnte. Der Gestank war zum Erbarmen. Es roch nach ranzigen Eiern und süßlicher Verwesung. »Ich habe mich aus meinem Grab unter der alten Eiche am Fluss erhoben«, fuhr es fort, »Und als meine Beine, nun vom hochehrwürdigen Gevatter vermehrt, sich langsam aus dem nassen Herbstschlamm und unter dicken Wurzeln hervorgruben, und als meine alten, müden Augen, nun so viel klarer geworden, die Sterne des Nachthimmels zum ersten Mal seit meinem Tod wieder hell brennen sahen, da sprach endlich der Sturm zu mir.«
Der Hund lachte. Und ja, in der Tat, es ähnelte noch entfernt dem Bellen meines alten, verstorbenen Freundes, der mich durch die besten Jahre meines Lebens begleitet hatte, nur lag unter dem so vertraut hellen Bellen nun das tiefe Rauschen und gequälte Schreien von Tausend gemarterten Seelen. Der ganze Chor der Hölle sang aus diesem einen Mund. Entsetzt stolperte ich endlich zurück. Der Hund schlüpfte jedoch mit seinen Insektenbeinen nun vollends durch das Loch im Dach. Abgetragene Schindeln und Schutt fielen dabei lautstark auf den Boden herab. Er musste zudem im Tod gewachsen sein, denn als er sich im Haus aufrichtete, ragte seine Gestalt fast bis zum oberen Türstück. Die Insektenbeine bohrten sich in das Holz des Bodens und in die steinernen Wände. Erneut grinste das Wesen und erst da sah ich, dass es nicht mein Hund war, der sprach, sondern die Spinne dahinter verschlang langsam seinen Leib und während es biss und kaute, drangen diese grässlichen Geräusche aus seinem Maul hervor. Es sprach also:
»Ja, nur deshalb bin ich wieder zurückgekehrt. Die Weisheit des Sturmes; sie drängt mich aus alter Erde wieder hervorzubrechen und aufs Neue meine Schnauze nach oben in luftige Himmel zu recken. Mein Herr und Meister! Erkennst du denn nicht? Ich bin nur zurückgekehrt, in dein nichtiges Reich, um dir zu berichten, was jenseits davon liegt. Also, bitte, oh bitte!… Freue dich! Und füttere mich!«
Ich wusste nicht mehr, wie ich diesen grässlichen Chitin-Klauen entkommen war, wie ich es geschafft hatte, mich den wütenden Mandibeln, die wie bösartige Karikaturen von Gottes Schöpfung sich aus den Seiten der Lefzen gewaltsam aus Fleisch und Eiter herauswühlten, zu entreißen und wie es mir gelungen war, diesen widerlich langen mit drahtigen Haaren übersäten Spinnenbeinen auszuweichen. Ich weiß nur noch, dass ich irgendwann hier im Büro aufgewacht war. Ich lag nun unter meinem von Akten und Notizen wild übersäten Schreibtisch und meine weit aufgerissenen Augen starrten wild im Raum umher. Die schwere Mahagonitüre mit den zwölf Schlössern und Riegeln zum Gang war noch einen Spalt weit geöffnet, ich musste vergessen haben, sie bei meiner Flucht zu schließen. Und von dort kamen nun die vielen Geräusche her, die mein Innerstes mit purem Grauen und tiefer Hoffnungslosigkeit zersetzten. Ich hörte ein Beißen und Kauen, gefolgt von Splittern und Krachen. Ich stellte mir dabei vor, wie dieses unheilige Biest langsam meinen Fernseher auffraß. Und irgendwo dort hinter der Türe, hinter dieser undurchdringlichen Schwärze konnte ich es grässlich jammern und heulen hören:
»Mein Herr und Meister, wieso versteckst du dich? Haben wir denn nicht immer zusammen gespielt und die sterbenden Herbstwälder erkundet. Haben wir denn nicht jedes Jahr frische Frühlingsluft gerochen und Kaninchen, die so lustig durch Bäume springen, gejagt? Und haben wir nicht immer zusammen die überquellende Stadt voller fremder Menschen, die so seltsam rochen, erkundet? Ich habe ja so viel Hunger, Herr und Meister, wieso fütterst du mich nicht mehr? Meine Schüssel war immer gedeckt, als ich gelebt habe, doch jetzt? Jetzt sehe ich, ist sie