Der Westwald. Lukas S. Kindt
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Ja, das frage ich mich oft. Was hätte ich machen sollen? Denn ich wünschte, ich hätte damals – als ich noch die Chance dazu gehabt hatte - irgendetwas gesagt oder getan. Vielleicht hätte es ja etwas geändert. Vielleicht wären wir beide sogar noch am Leben, wenn ich nur meine lähmende Feigheit irgendwie überwinden hätte können. Doch letztlich ist es müßig über «Was wäre wenn«- Szenarien nachzudenken. Es ist geschehen, was geschehen ist und ich kann die Schrecken die jetzt passieren, oder bereits passiert sind, nicht mehr aufhalten.
Also wie auch immer: Er begann mich in diesem Moment mit seinen Fäusten, die beinahe wie Stahlkappen auf mich niederprasselten, aus dem Haus hinaus zu prügeln. Ich konnte es nicht fassen. Das war mein Lehrer!... Mein Freund! Als ich schließlich gedemütigt und verletzt vor seiner Tür auf der Straße lag, blickte er mich noch ein letztes mal enttäuscht an, dann schlug er die Tür zu - mit einer Wucht, die ich ihm nie zugetraut hätte.
Etwas benommen rappelte ich mich nach einiger Zeit von der Straße auf und wankte heim. Ich musste mir beim Fall irgendetwas verstaucht haben, denn ich hatte seltsame Schmerzen am ganzen Körper, sogar an Stellen wo er mich nicht einmal getroffen hatte. Dazu kam noch ein zäher Nebel, der sich nun plötzlich um meinen Verstand zu legen schien. An einzelne, düstere und verworrene Gedankengänge konnte ich mich zwar schon noch erinnern, aber alles andere verschwindet im Malstrom des Vergessens.
Auf einmal wachte ich also Zuhause in meiner kleinen Arbeitsstube auf. Ich erinnerte mich nicht mehr daran, wie ich dorthin gekommen war, doch es müssen einige Stunden vergangen sein, in denen ich geistig umnachtet umher gewandelt bin. Die Nacht war nämlich schon weit fortgeschritten, als ich letztlich aufwachte und auf ein offenbar selbst geschriebenes Blatt Papier blickte.
Es war nur ein einzelnes, profanes Wort, das auf dem zerknüllten Löschpapier mit kritzeligen Buchstaben prangte, doch dieses eine Wort jagte mir einen solch ungeheuren Schauer über den Rücken, dass ich entsetzt nach hinten kippte.
Im Nachhinein betrachtet, war es sogar nicht nur ein Wort. Nein, es war stattdessen eine mit schwarzer Tinte geritzte Vision. Eine Vision von dem, was mich und die Welt erwartet. Ein alles verzehrender Wahnsinn schlug mir also in diesem Moment entgegen, versuchte mich in sich selbst zu ertränken. Panisch schnappte ich nach Luft. Das Wort auf dem kleinen Fetzen Papier war in der Schrift des verrückten Volkes geschrieben:
»Es ward geheißen Grenze. Und die Grenze soll sich auflösen und dahinter liegen die Grenzlande. Und hinter diesen Grenzlanden liegt wiederum die Zwischenwelt. Und die Zwischenwelt durchschneidet die Welten und Dimensionen. Und die Zwischenwelt ist grausam zu uns. Doch um die Zwischenwelt zu durchschreiten muss erst die Grenze überwunden werden. Die Grenze die uns schwach und klein hält.Die Grenze vor und hinter den Grenzlanden.«2
Entschuldigen Sie, meine Gedanken driften wieder ab, doch es ist wahr: Dieses glühende Wort, diese unheimliche Verheißung aus einer anderen Welt, die mir temporär meinen Verstand raubte, war Grenze.
Ich könnte wohl jetzt beschreiben, wie mich dieses unheilige Wort die ganze Nacht lang hindurch gequält und gemartert hatte, wie ich schreiend in meinem Haus auf und ablief und versuchte, dieses elendige Papier irgendwie zu vernichten, jedoch will ich – ehrlich gesagt - mir diese Erinnerungen ersparen und außerdem sollte ich mit Wichtigerem fortfahren.
Immerhin: Die Zeit, die unserer Welt noch übrig bleibt, läuft stetig ab und draußen vor dem Fenster sehe ich bereits, wie sich die eben angesprochene Grenze langsam auflöst. Aber wie hatte dieser ganze Wahnsinn überhaupt erst beginnen können?
1 Kapitel 2: Die Grenze zur Wissenschaft
Ich erinnere mich gerade an unser aller erstes Treffen. Ich hatte kurz zuvor mein Studium in einer Stadt fern meiner Heimat begonnen und war meiner Natur gemäß völlig überfordert in der fremden Umgebung, in der Ich auf einmal bestehen musste. Ich war immer ein sehr heimatverbundener Mensch gewesen, der sich nie viel um menschliche Beziehungen geschert hatte. Und die Ferne jagte mir - wenn ich ehrlich sein muss, so werde ich ehrlich sein - Angst ein. Manche Menschen würden mich vielleicht gefühlskalt und verschlossen nennen, aber eigentlich wollte ich immer nur meine Ruhe haben. Ich hatte nie wirklich etwas gegen Menschen.
Aber genug von mir: Ich bin schließlich nicht die Person, um die es hier geht. Sondern er. Und mein erstes Zusammentreffen mit ihm fand in einem sehr schmalen und alten Gang kurz vor der Bibliothek der Universität statt. Er hatte sich gerade im Streit mit einer anderen Person befunden, die, wie ich später erfahren sollte, ein berühmter Wissenschaftler und Entdecker gewesen war.
Eigentlich wollte ich nur so schnell wie möglich an den beiden vorbeiziehen, doch eine Mischung aus Unachtsamkeit und meiner ureigenen Tollpatschigkeit führte dazu, dass ich meine Unterlagen direkt neben den beiden Streithähnen fallen ließ. Der Eine starrte mich nur Unwirsch und voller Verachtung an, bevor er verschwand, doch der andere half mir wieder meine Sachen einzusammeln und wechselte sogar dabei ein paar freundliche Worte mit mir. Ich fand diesen etwas älteren Mann, dem ich nie zuvor begegnet war, auf Anhieb sympathisch. Er schien mir unterbewusst nur durch ein paar aufmunternde Worte zu verstehen zu geben, dass ich irgendwie wichtig für ihn wäre, obwohl wir uns vorher noch gar nicht gekannt hatten.
Die ganze Sache mit ihm kommt mir ehrlich gesagt erst in der Retrospektive seltsam vor. Damals hatte ich bei ihm eigentlich nur das Gefühl, er würde mich... verstehen. Vielleicht ist das nicht viel, aber so etwas hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt vorher in meinem Leben noch nie empfunden. Vielleicht konnte er mich auch gerade deshalb so leicht um seinen Finger wickeln. Sein Charisma half zudem wohl auch, um mich meine enge Schale überwinden zu lassen, die mich bis dahin isoliert und gefangen gehalten hatte.
Schüchtern beantwortete ich ihm also alle Fragen, die er mir lächelnd stellte. Dass diese Fragen sehr seltsamer Natur waren, fiel mir damals, wie gesagt, nicht auf. Ich war zu sehr von seiner einnehmenden Aura und seinen faszinierenden Ideen abgelenkt.
Von mir hingegen wollte er einiges wissen, zum Beispiel: ob ich schon mal was von den Grenzlandtheorien gehört hätte, oder von McCanes jetzt berühmter ‚Abhandlung über die 5 Dimensionen des Geistes‘, die damals gerade neu erschienen war. Als ich verneinte, erzählte er mir kurzerhand von Dingen, die mir schlichtweg die Sprache verschlagen hatten. Ja, mein Erfahrungshorizont erweiterte sich durch dieses eine Gespräch sogar derartig, sodass ich die folgenden Tage unter schweren Kopfschmerzen litt.
Das Wissen um die Antaloiden,3 die Beschaffenheit der äußeren Dimensionen und schließlich die Existenz der alles umgebenden Grenze, dies alles empfing ich von ihm und noch viel mehr. Ich wurde schnell eine gelehrige Schülerin.
Doch das faszinierendste von all dem, was er mir erzählte, waren immer noch die Ströme selbst: eine unvorstellbare Welt jenseits der unseren, in die man hinübertreten und sogar leben konnte. Es war eine Welt, deren bizarre Schönheit sich mir in der absolut kleinsten Splittersekunde, in der ich sie gesehen hatte, für alle Ewigkeiten in die Augen brannte. Noch heute sehe ich sie ständig vor mir. Eingeprägt auf meiner Netzhaut, bin ich unfähig sie auch nur für eine Sekunde abzuschütteln. Ist das ein Teil meiner Verurteilung? Doch wie auch immer, mir ist bereits nicht mehr zu helfen, also kehre ich wieder zurück.
Der Professor hatte mir beileibe nicht grundlos sein Wissen weitergegeben, sondern er machte mir schließlich das Angebot, eine Forschungsgruppe mit ihm zu gründen, um genau jene vorherig genannten Phänomene zu erforschen. Er glaubte dabei, dass es irgendeine Verbindung zwischen fremden Dimensionen und dem menschlichen Geist gäbe.
Begierig darauf mehr zu erfahren, nahm ich Schwachkopf an. Zwei Monate darauf wurde ich von der Universität verwiesen.4 Man nahm mir die Verbindung zu dem Professor