Der Westwald. Lukas S. Kindt

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Der Westwald - Lukas S. Kindt

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so voller Verzweiflung und Machtlosigkeit, dass Müller nicht mehr anders konnte. Entgegen allen Regeln zog er zitternd seine Pistole aus dem Holster und zielte mit weit aufgerissenen Augen in den Nebel hinein. Sein Kollege sagte irgendetwas neben ihm, aber der unmenschliche Schrei schien ihnen ihre Stimmen genommen zu haben. Müller verstand gar nichts mehr.

      Dann waren da auf einmal abgehakte Bewegungen vor den beiden Polizisten im Nebel. Schwarze verdrehte Arme und Beine ohne Körper tanzten wie hinter einem stark angelaufenem Milchglas, sodass man nichts näheres erkennen konnte. Ungelenke Schritte kratzten über den nassen Asphalt und ein stöhnendes Seufzen wie von hundert gepeinigten und verdammten Seelen hob sich an.

      »Müller, was tun Sie denn da?«, konnte er endlich seinen Kollegen verstehen, »Sie sehen ja ganz verschwitzt aus! Kommen Sie, ich bring Sie zum Auto. Der Fall scheint Sie ja wirklich mitzunehmen...«

      Schulz zog ihn am Ärmel und widerstandslos ließ sich Müller von diesem grauenvollen Ort wegführen. Er hatte für heute genug gehabt. Dieses ständige Geheule, die Abgründe, die sich im Boden auftaten, das Morden, die Apathie, die Angst, die Leere und schließlich: Das drohende, allgegenwärtige Ende; Müller schloss müde die Augen und dachte nach. Noch drei Tage, dann war es endlich vorbei. In drei Tagen würde er gemütlich mit seiner Familie am Esstisch sitzen und mit ihnen geduldig warten, bis das Ende schließlich kam. Noch drei kurze Tage... Noch drei so endlos lange Tage.

      Müller machte die Augen wieder auf und bemerkte überrascht, dass sie schon die verwaiste Hauptstraße zur Polizeistation entlangfuhren. Er musste wohl in der Zwischenzeit ohnmächtig geworden sein.

      »Na, ausgeschlafen, Junge?«, kam es dann auch prompt sarkastisch von der Fahrerseite, »Sie sollten wirklich mehr auf sich acht geben, Mann. Sie sind mir da draußen komplett weggekippt. Ich konnte Sie gerade noch zum Auto schleifen. Die Neperrenten wollten sie sogar schon mitnehmen. Hab ich gerade noch verhindern können. Da schulden Sie mir aber jetzt einiges, Müller!« Müller gähnte nur, ohne etwas zu sagen und starrte missmutig nach draußen.

      Ja, es wurmte ihn, dass er Schulz nun wirklich etwas schuldig war. Wenn er daran dachte, dass er ohne seinen wachsamen Vorgesetzten in diesem Moment unten bei den Neperrenten weilen würde, verspürte er ärgerlicherweise sogar so etwas wie Dankbarkeit. Immerhin konnte er nun den letzten Tag mit seiner Frau und seinen zwei Kindern verbringen. Das musste er wohl oder übel seinem Kollegen Schulz anrechnen.

      Draußen zogen indessen die verlassenen Häuser der Stadt an ihnen vorüber. Blinde, vernagelte Fenster starrten auf leere Straßen und düstere Gesichter unter tiefen Kapuzen verborgen, huschten hastig durch den dichten Nebel, worin Schemen mit viel zu vielen Beinen und Armen herumkrochen. Um sich von dieser melancholischen Szenerie abzulenken schaltete Müller das Radio ein und drehte es dabei fast ohrenbetäubend laut. Es kam gerade eine Verkehrsnachricht durch:

      »...MEHRERE TOTE BEI VERKEHRSUNFALL AUF DER A8 RICHTUNG MÜNCHEN. AUGENZEUGEN SPRECHEN VON EINEM NEPERRENTEN-ABGRUND, DER SICH PLÖTZLICH MITTEN AUF DER NEUSANIERTEN AUTOBAHN AUFGETAN HATTE. VON DER REGIERUNG GIBT ES BISHER NOCH KEINE STELLUNGNAHME DAZU, DA DER UMZUG NACH WEIBYLON IMMER NOCH IM GANGE IST. UND NUN ZURÜCK ZU DIR, PEtra...« Der alte Schulz drehte die gelangweilte Stimme des Radiomoderatoren wieder leiser, bis er schließlich ganz verstummte. Müller kam es dabei so vor, als wäre der Sprecher geradezu beleidigt, dermaßen unhöflich abgewürgt zu werden.

      »Nichts als Unfug kommt heutzutage in den Nachrichten. Die sollen mal wieder etwas Nettes bringen.« Schulz trommelte sichtlich genervt auf dem Lenkrad. «Ach, und übrigens, Müller, kontaktieren Sie das HQ. Wir sollten unseren jetzigen Status durchgeben...und vielleicht wäre es nicht schlecht, mal nachzusehen, ob die Jungs überhaupt noch da sind. Viele Kollegen scheinen immerhin zu meinen, dass sie einfach schon vor dem offiziellen Ende Schicht im Schacht machen könnten. Wirklich... Was für Flegel!«

      Der junge Kommissar tat wie ihm geheißen und wählte am Sprechgerät die verschlüsselte Frequenz der Polizeistation aus.

      »Hier Müller, wir kommen gerade vom Tatort im Univiertel zurück. Sind auf dem Weg zur Station. Seid ihr noch da? Ende.«

      Zuerst kam für einige Minuten nur ein leeres Rauschen und Knirschen aus dem Apparat zurück und der junge Kommissar rechnete schon fast damit, dass die Station bereits gefallen wäre - immerhin befand sich seit gestern direkt daneben ein gigantisches Neperrenten-Loch - aber zu seiner Erleichterung kam nach einer Weile äußerst schwach aber noch verständlich die apathische Stimme einer dösigen Frau durch:

      »Ja, hier Polizeistation-Hauptquartier. Sind noch da. Ach ja, Müller, Schulz: Der Chef hat gleich einen neuen Auftrag für euch. Der letzte für heute. Ihr sollt einen Experten von der Station zum Rathaus begleiten. Kriegt ihr beiden das hin?«

      Müller sah verblüfft auf die Sprechanlage, doch diese schwieg wieder. Einen Experten eskortieren? Das war doch keine Kommissar-Arbeit. Und ein Experte wofür überhaupt? Da schaltete sich räuspernd sein Kollege ein:

      »Sind auf dem Weg. Sagen Sie aber dem Experten, er soll vor dem Tor warten, aber sich vom Loch gefälligst fernhalten! Wir holen ihn ungefähr in zwanzig Minuten ab, Ende.«

      Dann schwiegen sie wieder. Nach einer gewissen Weile bogen die beiden schließlich nach rechts in die Innenstadt ab, kamen aber weiterhin wegen des dichten, allumgebenden Nebels nur sehr langsam voran. Müller hatte dabei urplötzlich das bedrängende Gefühl, dass diese graue, düstere Masse da draußen mittlerweile sogar noch fester und undurchdringlicher geworden ist. Man konnte immerhin fast gar nichts mehr erkennen. Selbst mit den grellen Lichtkegeln des Autos ließ sich diese Wand nicht niederringen.

      Wie ein Leichentuch bedeckte der ewig anhaltende Nebel DES PROZEDERES langsam die gesamte Welt und versteckte das Sterben der menschlichen Rasse. Müller fand das jedoch durchaus gut so, auch sein Kollege Schulz fand es gut so, die Regierung fand es gut so, das Volk fand es gut so und ebenso die ganze gesamte Menschheit. Man musste ja nicht alles sehen, und die mannigfaltigen Geräusche überall im Nebel genügten bereits durchaus, um erahnen zu lassen, was vor sich ging: Diese halb erstickten, widerhallenden Hilfeschreie in der Ferne, die gelegentlich auf taube Ohren fielen, sowie dieses boshafte Kratzen eifrig marschierender Neperrenten-Füße über zersprungenem Asphalt, oder aber auch das reißende Geräusch von Fleisch hinter jenem Zaun, an dem sie gerade vorbeifuhren;

      Die schrecklich betörende Sinfonie des Untergangs bildete sich aus all diesen verschiedenen Tönen. Und das war, ehrlich gesagt, schon mehr als genug; da musste man auch nicht mehr die Bilder dazu sehen.

      »Wir sind da«, bellte Schulz plötzlich und riss den jungen Polizisten damit aus seinen ewig kreisenden Gedanken, »ich seh den Experten aber nicht. Gehen Sie mal raus und schauen Sie nach, ob er vielleicht gefressen worden ist, oder so. Bleiben Sie aber nicht zu lange weg. Wenn sie in zehn Minuten nicht wieder da sind, mache ich nämlich Feierabend. Haben Sie verstanden?«

      Müller nickte seinem Kollegen zu und stieg mit pochendem Herzen aus dem Auto aus. Sofort umfing ihn wieder der dichte Nebel, dessen eigenartig zähe Masse seinen Körper mit fühlenden Fingern umgriff. Sich durch den Nebel vorwärts zu bewegen, war in der Tat ähnlich wie durch dünnes Gelee zu waten. Und dazu kam noch diese unheimliche Kälte, die ihn innerlich frieren ließ, während die Haut darüber fiebrig brannte; Woher dieser giftige Nebel kam und welchem Zweck er diente, darüber konnte nur spekuliert werden. Die Regierung behauptete zumindest felsenfest, dass er nicht mit den Neperrenten in Verbindung stand, sondern anderen Ursprungs war. Ob das tatsächlich der Wahrheit entsprach, konnte der junge Polizeikommissar nicht mehr beurteilen, denn ihm fehlte in letzter Zeit sein altes und bestechend klares Urteilsvermögen, auf das er eigentlich sonst immer so stolz gewesen war. Ja, der Nebel schien auf eine gewisse Weise jegliche Sinne zu verkleben und machte blind für alles, was lauerte. Ein idealer Jagdgrund....

      Müller

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