Der Westwald. Lukas S. Kindt

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Der Westwald - Lukas S. Kindt

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auf seiner Brust. Müllers müder Körper versteifte sich unter ihren harschen Anklagen. Es war, als würde er in ihrer heiseren Verzweiflung ertrinken. Zweifel machten sich dabei langsam in ihm breit. Vielleicht hätte er sich doch dem allen widersetzen sollen, bevor es zu spät gewesen war. Und das wütende Schluchzen und frustrierte Hämmern seiner Frau drang diese Gedanken wie einen Pflock nur noch tiefer in seine Brust, in sein Herz hinein. Er konnte nicht mehr widersprechen. Das dräuende schlechte Gewissen hatte nämlich seine sonst so kräftige Stimme verschluckt.

      Da schallte es urplötzlich und ohne Vorwarnung laut zum Fenster herein. Müller meinte schon in einem Moment blitzartigen Entsetzens, dass die Neperrenten endlich auch bei ihnen anklopfen würden, aber es war letztlich nicht die Stimme eines Abgrundlings, die da dort so schrill wie Fingernägel auf einer Tafel kratzte:

      »Das ist Hass! Ich hab´s ganz genau gehört. Die Leute VOM PROZEDERE werden das erfahren! Ich hab hier zwei Aufrührer. Gleich zwei Aufrührer hab ich auf einen Streich! Ha! Ich verstehe euch einfach nicht. Wie könnt ihr nur so undankbar sein, ihr jungen Leut? Was schindet sich denn DAS PROZEDERE für euch nicht ab?! Aber jetzt ist mein Geduldsfaden gerissen. Lange genug habe ich euch beobachtet. Jahrelang sogar! Und jetzt hab ich genug Material. Ich geh jetzt gleich zur Kommission und die werden euch abholen kommen! Das habt ihr nun davon. Aber Gesindel wie euch ist eh nicht zu helfen. Ihr wollt ja nur unseren Frieden und unsere schöne freie Gesellschaft zerstören. Ihr widert mich einfach nur an!«

      Bedrückt und mit eisigen Herzen hielten sich die Liebenden in den Armen, hörten der geifernden Anklage widerspruchslos zu. Es war die alte Nachbarin Elsa, die da draußen stand, mit abgerissenen Ohren und zerschlagenen Zähnen. Das ganze Gesicht war von großen Krallen wüst entstellt, aber ihre Augen funktionierten noch und mit denen konnte sie offenbar Lippen lesen. Müller drückte seine Frau unwillkürlich fester in seine starken Arme, nahm noch einmal ihren süßen Geruch in sich auf. Vielleicht war es ja nun das letzte Mal, dass er sie so nah an sich halten konnte, denn die Kommission war immer viel zu schnell bei ihren Abholungen. Vielleicht kamen sie ja schon in der nächsten Sekunde zur Tür herein. Wer konnte das schon wissen?

      »Es tut mir leid«, flüsterte er deshalb bange seiner zitternden Frau ins Ohr. Ihre Nägel gruben sich dabei verzweifelt in seinen Rücken und hinterließen tiefe Furchen. Kam das Ende jetzt schon? Ganze drei Tage zu früh?

      Da fing urplötzlich die alte Zausel draußen vor dem Fenster erneut zu kreischen und zu flehen an, aber es half alles nichts: der Neperrent war zurückgekommen, um seine entflohene Beute wieder einzufangen. Sie wurde nun von dreißig Händen gleichzeitig gepackt und erbarmungslos über den Boden hinweg geschleift. Ein paar Minuten lang hörten sie also noch das grausige Geschreie und Geheule der alten Frau, das Schleifen ihres Körpers wie einen nassen Sack über Beton, doch immer weiter entfernte sich die warnende Sirene, bis sie schlussendlich vollkommen irgendwo auf der Nordseite ihres Hauses verstummte. Nach weiteren zehn verstrichenen Minuten atmeten die beiden endlich erleichtert auf. Müller und seine Frau waren gerade noch einmal davongekommen. »Bleib hier!«, hauchte sie ihm sinnlos ins Ohr.

      Am nächsten Morgen stand der Kollege Schulz noch vor der Tagesanbruch in seiner Tür und fragte ihn: »Sie wissen Bescheid, Müller? Wegen dem Mord, meine ich.«

      »Klar«, antwortete ihm Müller trocken und fuhr sich mit der Hand über sein unrasiertes und müdes Gesicht.

      »Dann müssen Sie mich jetzt verhaften und verurteilen lassen. Ein Mörder kann schließlich nicht frei herumlaufen. Auch nicht kurz vor dem Ende der Welt. Die Ordnung muss aufrecht erhalten bleiben!« Müller blickte lustlos auf seinen adrett in Zeremonien-Uniform gekleideten Kollegen, der erwartungsvoll zurückstarrte. Der junge Kommissar gähnte jedoch nur:

      »Wieso haben Sie den armen Jungen überhaupt umgebracht? Sind Sie denn nicht Polizist? Und das dann auch noch drei Tage vor Weltenende. Ich hätte mir eigentlich gerne die letzten zwei Tage freigenommen, um Zeit mit meiner Familie zu verbringen, wissen Sie?« Der junge Kommissar wollte mit diesen Worten seinem Vorgesetzten somit gerade die Tür vor der Nase zuschlagen, dieser stellte jedoch geschwind einen Fuß in die Türkante und bettelte ungerührt weiter:

      »Wieso stellen Sie Fragen und machen gleichzeitig die Türe zu? Wollen Sie denn überhaupt nicht die Auflösung wissen? Kommen Sie, Müller! Sie schulden mir noch was! Und außerdem verspreche ich Ihnen, dass wir nur einen Tag brauchen werden. Mehr brauchen wir wirklich nicht. Und Morgen werden sie fröhlich mit ihrer Familie vereint sein und dem Ende ruhig entgegenblicken. Aber erst muss die Ordnung wiederhergestellt werden!«

      Müller seufzte genervt, blickte sich noch einmal in dem Vorzimmer um - aber es war keine Frau da, um ihn aufzuhalten - und zog sich schließlich widerwillig an. Der mörderische Kollege musste ihn trotzdem praktisch zum Auto hinschleifen. Als sie dann endlich in dem stickigen Karren drinnen saßen, konnte dieser es gar nicht erwarten, ihm alles zu beichten:

      »Wissen Sie, wieso ich den armen Jungen in der Küche umgelegt habe? War ja schließlich mein Bekannter. Diese Wendung hätte niemand ahnen können, oder?«

      Müller antwortete nicht und konzentrierte sich lieber auf die vernebelte Straße vor ihnen.

      »Und außerdem war ich immer ein guter und zuverlässiger Kollege«, fuhr deshalb der alte Mann beinahe so begeistert wie ein kleiner Junge fort, »Äußerst pünktlich und gewissenhaft. So steht es in meinem Führungszeugnis, Müller! Da können Sie sich noch ein Vorbild an mir nehmen!« Müller musste gerade mit quietschenden Reifen und schwitzigen Händen Trümmerteile auf der Straße ausweichen. Deshalb konnte er ihm nicht antworten.

      »Ich wollte ihn eigentlich nicht töten, aber dann hab ich es doch getan.«

      Müller drehte sich nun doch überrascht zu seinen Kollegen hin, der mittlerweile nur noch mühsam seine Tränen unterdrücken konnte. »Es ist ja nur so, Sie, Müller, Sie haben doch ihre Familie mit der Sie Zeit verbringen können. Ich hab aber seit Beginn der großen Apathie ja gar nichts mehr. Können Sie sich das vorstellen? Kein Mensch begeht mehr Verbrechen. Am Anfang des Untergangs waren ja noch alle hysterisch, aggressiv, haben gestohlen und gemordet; es war eine gute Zeit für einen Polizisten, aber nun? Jetzt stehen alle nur noch lahm in der Gegend rum und warten darauf abgeholt zu werden, entweder von der Kommission oder den Neperrenten. Und für uns Polizisten? Für uns bleibt gar nichts mehr zu tun! Finden Sie das etwa fair?«

      »Aha, und deshalb musste der Junge sterben? Weil Sie sich mit Polizeiarbeit ablenken wollten?«

      Der Kollege Schulz wurde auf diese Frage hin seltsam still. Vielleicht fand er auch, dass sich seine Gedanken plötzlich dumm anhörten, wenn sie jemand anderes äußerte. Denn wer mochte seinen inneren Wesenskern schon ungeschützt in der Hand eines Fremden sehen? Er schwieg und Müller schwieg ebenso. Sie beide hatten sich nun nichts mehr zu sagen.

      Zuerst machten die Polizisten sich auf dem Weg zur Polizeistation; Als sie auf dem großen Platz davor ankamen, waren ihre Türme aber bereits halb untergegangen in einem Meer aus Sand und hell loderndem Feuer. Ohne etwas ausgerichtet zu haben, mussten die beiden also wieder umkehren.

      Danach begaben sie sich zum altehrwürdigen Justizpalast mitten in der Stadt und frohlockten, als sie sahen, dass er noch bestand hatte. Einmal durch das hohe Bogenportal geschritten, erkannten sie jedoch schließlich, nachdem sie durch Tausende und Abertausende von Zimmer gestreift waren, dass hier niemand mehr war. Nur eine einzelne Reinigungsdame fanden sie noch im 212. Stock, die ein einsames Lied auf ihren Lippen maßvoll balancierte. Respektvoll, wie die Polizisten waren, störten sie sie nicht weiter und stiegen wieder ins Auto.

      Ihr drittes Ziel war nunmehr der Reichstag in Berlin. Aber dort befand sich nur noch ein großes Loch mit Eingängen zu Hunderttausend anderen Löchern. Hier kamen sie also auch nicht weiter. »Wohin denn nun?«, fragten sich die beiden

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