Der Westwald. Lukas S. Kindt

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Der Westwald - Lukas S. Kindt

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machte sich aber nicht nur wegen der Neperrenten Sorgen, sondern seine Frau wurde auch psychisch gesehen letztens immer hysterischer. Vor allem war sie aber eine derjenigen, die sich nur schwer mit dem allgegenwärtigen Ende abfinden konnten.

      Somit griff Müller also schon geistesabwesend zu seinem Handy, um die Nummer von zu Hause einzutippen, verwarf den Gedanken dann aber doch wieder kopfschüttelnd. Stattdessen fragte er, um sich von seinen eigenen Ideen abzulenken, den Experten:

      »Worin genau sind Sie denn eigentlich Experte? Soweit ich weiß, wurde das Neperrenten-Forschungsinstitut schon vor langer Zeit geschlossen, weil alle Experten ja bei diesem einen grässlichen Ereignis gestorben sind. In welcher Richtung forschen Sie also?«

      Der Experte, der die ganze Zeit nur geistesabwesend und gelangweilt zum Autofenster hinaus gestarrt hatte, wurde auf Müllers Interesse hin plötzlich sehr lebhaft und nickte eifrig Müller zu.

      »Ja, ja, ja! Ich gehöre wo ganz anders hin! Ganz, ganz woanders. Ich gehöre nämlich zu dem Team, dass die Welt schlussendlich retten wird. Sie haben ja alle sicherlich gehört, dass in 3 Tagen die Welt untergeht, oder? Nun ja, ich und die Organisation für die ich arbeite, haben einen Weg gefunden, um genau das aufzuhalten! Tja!«

      Müller keuchte überrascht und selbst der sonst so stoische Schulz verriss beinahe das Lenkrad.

      »S..Sie wollen mich verarschen, oder?«

      »Nein, nein, nein!«, unterbrach ihn der Experte mit wild blitzenden Augen und bevor Müller nachhaken konnte, ergoss sich der Rote in einem Schwall von Erklärungen:

      »Sie wissen, ja? Die Sprache der Neperrenten ist unheimlich komplex. Es gibt hunderte von verschiedenen grammatikalischen Regeln, die sich alle für die geschriebene-, gesprochene- und sogar gelesene Sprache unterscheiden. Dazu kommen noch Hunderttausend Ausnahmen. Aber auch die Laute sind schier enorm in der Anzahl. Die deutsche Sprache besitzt beispielsweise fünf unterschiedliche Vokale. Die Neperrenten kennen hingegen 500. Die deutsche Sprache hat ungefähr 20 verschiedenen Konsonanten; von den Neperrenten wissen wir nun ungefähr 30.000 Einzelne zu unterscheiden.

      Sie können es sich also sicher vorstellen: Es hat uns unheimlich viele Jahre gekostet, überhaupt soweit zu kommen, aber nun sind wir endlich beinahe am Ziel. Wir haben nun ungefähr so Pi mal Daumen, geschätztermaßen, prozentual gesehen 5% der Sprache entschlüsselt. Und wenn wir schließlich den Rest entschlüsselt haben, dann werden wir endlich mit ihnen kommunizieren können. Unglaublich!« Müller blickte verwirrt in das begeisterte Gesicht des Experten hinter ihm. Die weit aufgerissenen Augen in den tiefen Höhlen verrieten einen schon fortgeschrittenen Wahnsinn. Der Polizist wollte trotzdem weiterbohren:

      »Aber was bringt uns das weiter? Wir wissen ja schließlich, was die Neperrenten wollen, dazu müssen wir ihre Sprache nicht kennen, sondern nur ihre Handlungen analysieren.«

      Der Experte schüttelte angestrengt den Kopf hin und her. Auf Müller wirkte er nun eher nicht wie ein Retter der Menschheit, sondern mehr wie ein beleidigtes Kind mit hochrotem Kopf.

      »Nein! Nein! Nein! Sie verstehen absolut nicht. Wie können Sie auch?- Sie sind ja immerhin Polizist und kein Experte. Sehen Sie: Sobald wir die Sprache der Neperrenten verstehen, werden wir mit ihnen verhandeln und Frieden schließen können. Wie wir ja alle wissen, waren die Neperrenten ursprünglich Engel, die zu uns geschickt worden waren, um uns von unseren Sünden zu erlösen und das endgültige Utopia zu errichten, aber... anscheinend müssen irgendwelche böse Menschen unter uns sie mit irgendwas verärgert haben. Doch wenn wir schließlich ihre Sprache verstehen, können wir diese Misere ganz einfach aufklären. Verstehen Sie doch: Die Welt wird nicht untergehen! Und schon gar nicht in drei Tagen...«

      Müller schwieg, als er sah, wie der Fanatismus im Augenweiß des Experten die restliche Vernunft auffraß und konzentrierte sich lieber wieder auf die Straße vor ihnen. Der Kollege Schulz räusperte sich ebenfalls unangenehm berührt, blieb ansonsten aber auch still. Und so fuhren sie weiter durch die aussterbende Stadt dahin, fuhren durch das Chaos des sich anbahnenden Endes, während Müller aus dem Fenster starrte und sich leise fragte, welche Engel schon jemals aus dunklen Höhlen und verschlammten Straßenlöchern herausgekrochen waren.

      Weil sie sonst nicht wussten wohin ließen sie schließlich den Experten vor dem großen Rathaus mit den vergitterten Fenstern und vielen Wachtürmen raus. Müller war sich dabei zwar nicht ganz sicher, aber er meinte, nur für den Bruchteil einer Sekunde eine Hand gesehen zu haben, die den Roten ruckartig von hinten gepackt und mit sich in den Nebel gezogen hatte, gerade als sie wieder losgefahren waren.

      »Das sind nur ihre müden Augen. Da ist überhaupt nichts«, beruhigte ihn Schulz jedoch grummelnd und deshalb ließ er das Thema wieder fallen. Vielleicht hatte der Kollege ja sogar recht. Es war immerhin schon später Abend geworden und nach einem solch langen Tag mochten sich viele Dämonen zeigen - manche existierten, andere wiederum nicht.

      Während Müller also in unzusammenhängenden Gedankenfetzen schwebte, brachte ihn Schulz heim zu seiner Familie. Der alte Kommissar selbst fuhr dabei nach einem kurzen Abschiedswort weiter zur Polizeistation, wo er, soweit Müller es wusste, auch lebte. Melancholisch sah der junge Polizist den kläglichen Lichtern des langsam im Nebel verschwindenden Autos noch eine Weile hinterher.

      Er zögerte, wusste aber nicht wieso, in das Haus hineinzugehen. Seine Frau war wahrscheinlich wieder sauer auf ihn - das war sie immer - aber das stellte, so glaubte er, nicht den Grund seines Zögerns dar. Nach ein paar Minuten schüttelte er schließlich die seltsame Steifheit jedoch ab und trat durch die niedrige Türe hinein in die schummrig beleuchtete Diele. Er roch Essen. Erst jetzt merkte er, wie hungrig er eigentlich war. Leise also wie ein Tiger mit leerem Magen, der sich an seine Beute heranpirschte, öffnete er die Türe zu dem langen Flur.

      Doch seine Frau stand schon direkt vor ihm. Entgeistert starrte er sie an. Und bevor er auch nur den geringsten Ton der Überraschung rausbringenkonnte, fiel sie ihm um den Hals und küsste ihn innig. Heiß fuhren ihre Lippen über seinen Mund und seinen Hals, leise hauchte sie kraftlose Worte:

      »Bitte bleib hier. Geh nicht mehr weg! Die Neperrenten! Sie waren heute schon da... in aller Früh vor dem Haus. Ich wollte die Kinder wieder in die Schule schicken, so wie du´s mir auch gesagt hast, aber dann standen diese… Dinger da draußen. Unsere Kinder! I...ich hab sie gerade noch zur Tür wieder reinziehen können. Den Max hätten sie mir aber beinahe erwischt. Ich hab solche Angst, Schatz. Sie haben sogar die Nachbarin, die alte Elsa von drüben, haben sie geholt! Ich hab´s mit eigenen Augen gesehen. Sie waren auf einmal in ihrem Haus drinnen. Und... Und... dann diese Schreie! Und morgen! Morgen werden sie in unser´s kommen. Ich weiß es ganz genau! Ich...«

      »Sschhh«, beruhigte Müller seine aufgebrachte Frau und stieß sie dabei ein bisschen von sich weg, um sich Luft zu verschaffen. »Es ist ja alles gut«, versuchte er nüchtern und mutig zu klingen, »Und wenn ihr euch ruhig verhaltet, dann werden die Neperrenten ganz sicher nicht kommen. Sie kommen immer nur zu denen, die laut sind. Das weißt du doch, Schatz.« Müller wusste natürlich, dass das Quatsch war, aber irgendetwas musste er ja sagen.

      »Lügner«, schluchzte seine Frau, während ihre Tränen langsam in seine Jacke sickerten. Aber was konnte der junge Polizist denn schon tun? Es war ja nicht sein Plan gewesen, in einer Zeit aufzuwachsen, in der das Ende der Welt schon feststand. Er hätte auch Pläne gehabt: Karriere machen, seinen Kindern beim Wachsen zusehen, in Rente gehen und sich dann schließlich einen schönen Lebensabend machen; Nichts davon war mehr erreichbar. DAS PROZEDERE wollte es so.

      »Ich kann dieses elendige PROZEDERE nicht mehr hören. Sie haben gesagt, es würde alles gut werden. Sie haben gesagt, wir müssten uns vor nichts fürchten. Und jetzt? Jetzt sagen sie uns einfach, wir sollen stillhalten und auf das

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