Allah und die Klavierspielerin. Till Angersbrecht

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Allah und die Klavierspielerin - Till Angersbrecht

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das einen Menschen sehr wohl dazu zu bringen kann, einen Schrei auszustoßen, so wie es die Spanier tun, wenn ein Flamencosänger sie mit seinen kunstvollen Tongirlanden bewirft. Selbst für ihn, einen Techniker, der genau weiß, was jeder der einzelnen Knöpfe, Hebel und Schalter bewirkt, war dieser Moment immer von einer geheimen Magie umgeben.

       Dachte er darüber nach, dann geriet er immer von neuem ins Staunen. Was geschah denn eigentlich in diesem Augenblick? Er hatte den kleinen Finger bewegt und unter ihm setzten sich dreihundert Tonnen Materie in Bewegung. Sie gehorchten dem kleinen Finger sozusagen aufs Wort. Der Vergleich mochte ja etwas weit hergeholt sein, aber manchmal fiel ihm dabei der dramatische Augenblick ein, als Gott das berühmte Wort aussprach, woraufhin überall im Universum die Lampen angingen - die Sonne, die Milchstraße und sämtliche wasserstoffbetriebenen Lichtwerke des Alls -, denn alle begannen nur wegen dieses einzigen Worts im gleichen Moment mit ihrem Feuerwerk. Natürlich war er selbst, Norbert Behrends, nur ein kleiner Flugkapitän. Was er tat, bezog sich nur auf dreihundert Tonnen. Aber dass ein kleiner Finger so eine Wirkung zustande brachte, erstaunte ihn stets von neuem.

       Und kam nicht auch bei diesem Geschehen das Wort ganz zuerst – ein reiner, körperloser Gedanke? Erst geschah doch etwas in seinem Gehirn. „Es werde Bewegung“, so murmelte er manchmal absichtlich in sich hinein, um sich wie ein kleiner Gott vorzukommen. Dieser Befehl wurde dann über sein Rückenmark und den Arm bis in die Finger weitergeleitet. Und erst danach geschah alles Übrige. Der gewaltige Berg von circa dreihundert Tonnen Materie setzte sich mit sklavischer Leichtigkeit in Bewegung und schwang sich schließlich mühelos in die Höhe – alles aufgrund eines Gedanken in seinem Gehirn.

       Ja, lange Zeit hatte er sich in diesem Moment immer in einem seltsamen Zustand befunden, einer Woge des Glücks. Und deswegen schossen ihm ja auch derartige Phantasien mit traumhafter Mühelosigkeit durch den Kopf und erzeugten Wirbel und seltsame Rauschzustände. Damals hatte er, Behrends, sozusagen eine ganz persönliche Ahnung davon gehabt, wie dem Weltenherrn zumute gewesen sein musste, als er am ersten Tag seiner Schöpfung mit einem einfachen Wort und Fingerdruck die Lampen im All anknipste. Ja, im ersten Jahr seines Dienstes als Flugkapitän war er sich bei jedem Start wie der verkörperte Gott der Maschine vorgekommen, wie ihre Seele oder ihr dirigierender Geist, denn nur seinem Willen und Befehl war es zu danken, dass alle Leute in ihrem Bauch zehntausend Meter aufwärts zum Himmel gelangten.

       Bei solchen Gedanken hatte er zwischen Hirn und Bauch immer ein Gefühl des Triumphes verspürt, der seinen Höhepunkt in dem Augenblick erreichte, wenn die Maschine plötzlich ganz ruhig wurde, fast lautlos, weil sie den letzten Kontakt mit dem Boden verlor und sich dann, fast senkrecht wie eine Rakete, nach oben hinauf in den Himmel bohrte.

       Das alles war damals. Heute sind diese Erinnerungen verblasst, Vergangenheit, kalter Kaffee. Damals ist er eben ein anderer gewesen. Natürlich auch jünger. Die ersten Jahre war das bei jedem Start so gewesen, aber er hatte nie mit einem anderen darüber gesprochen. Über solche Dinge redet man nicht, so wenig wie über die Liebe, die wirkliche Liebe, nicht die beiläufigen Abenteuer, die man vor den Kollegen ausbreitet. Vielleicht verbirgt man solche Gefühle deswegen in seinem Inneren, weil man nicht weiß, ob sie eher lächerlich oder erhaben sind. Vermutlich sind sie ja beides zugleich.

       Ja, so war das früher einmal gewesen. Damals war er jung, heute spürt er nichts mehr in seinem Bauch, keinen Triumph, kein Gefühl von Überlegenheit über diesen Brocken Materie, obwohl er ihn nach wie vor mit leichter Hand dirigiert. Äußerlich ist alles so wie früher, ja, eigentlich sogar besser, die Maschinen sind technisch ja viel vollkommener geworden, da haben wir außerordentliche Fortschritte gemacht, aber das ist eine andere Geschichte, und sie geht ihn schon nichts mehr an, denn das Wichtigste ist doch nicht mehr so wie früher. Er, Norbert Behrends, spürt nichts mehr, wenn er abhebt - schon lange nicht. Als er diesen Umschwung, diesen Verlust zum ersten Mal bemerkte, war er entsetzt gewesen. Er kam sich wie ein Liebhaber vor, der aus bloßer Routine weiterhin mit der Frau schläft, die ihm einmal so viel bedeutet hatte, obwohl sie längst keine tieferen Gefühle mehr in ihm erregt. Oder er dachte an die Geschichte von dem Musikliebhaber, die er vor einigen Tagen im Radio hörte. Seltsame Geschichte. Der Mann hatte sich jahrelang an den Goldberg-Variationen berauscht, immer dann wenn er ihren Trost nötig hatte. Aber eines Tages legt er die Platte auf, hört die vertrauten Töne, nur empfindet er nichts mehr dabei. Absolut nichts. Es sind dieselben Melodien und Harmonien, da besteht gar kein Zweifel. Sie sind dem Musikliebhaber ja bis in die letzten Einzelheiten bekannt, er kann darüber noch genauso fachmännisch reden wie früher, nur bringen sie seine Seele nicht mehr zum Schwingen, lassen sie tot und gefühlslos – gerade so, als wenn die Töne an seinen Ohren vorüberwehten. Die Musik war ihm von einem Augenblick auf den anderen gleichgültig geworden. Seltsame Geschichte, normalerweise hatte Behrends für solche Gefühlsmalereien wenig übrig, aber in diesem Fall nahmen sie ihn gefangen. Es kam ihm vor, als wäre da von ihm selbst die Rede.

       Eine Zeitlang hatte Behrends geglaubt, dieser Verlust habe etwas mit der verlorenen Jugend zu tun. Liegt es an mir?, fragte er sich. Bin ich in diesen Jahren ein anderer geworden? Nein, das ist nicht der wahre Grund. Ich selbst habe mich nicht verändert. Die Welt da draußen hat sich gewandelt. Das Fliegen ist nicht mehr dasselbe. Es ist einfach nicht mehr, was es in der Vergangenheit war: Abenteuer, Spannung, Erneuerung. Es ist Routine geworden, ein Job wie alle anderen.

       Nach wie vor sitzt Behrends auf dem Pilotensessel, weil das nun einmal der Beruf ist, in dem er sein Geld verdient, das einzige Metier, das er beherrscht. Aber er verrichtet diesen Beruf ohne Spaß, die schönen Gefühle von früher wurden zerrieben. Fliegen ist für ihn nur noch Gewohnheit und tägliche Pflicht. Kein Schauer läuft ihm über den Rücken, wenn sich unter ihm der schwere Körper vom Boden hob, kein Gefühl des Triumphs. Nur die Erinnerung daran ist ihm als Souvenir an eine andere Zeit geblieben.

       Nein, an seiner eigenen Person hat sich nichts geändert. Das wird ihm niemand vorwerfen können. Er, Norbert Behrends, ist gewissenhaft wie er es immer war. Nie haben sie an ihm auch nur das Geringste aussetzen können. Zwanzig Jahre Berufserfahrung, das merkt man einem Piloten natürlich an. Einen Fehler würde sich ein Mann wie er niemals leisten. Er ist verlässlich und absolut berechenbar, so wie diese Maschine, die für ihn zu den besten zählt, besser noch als die amerikanischen Fluggeräte.

       Und dennoch weiß Behrends, dass er sich selbst betrügt. Auch mit ihm ist etwas passiert. Es stimmt nicht, dass er noch derselbe wie früher sei. Da ist doch nicht mehr als die äußere Hülle geblieben.

       Auch solche Gedanken kommen ihm an diesem nebligen Tag. Vielleicht bin ich innen schon hohl. Ist es nicht so? Man ändert sich doch langsam von innen, so wie ein Haus, das die Termiten von innen zernagen. Von außen merken die Leute lange Zeit gar nichts. Ich handle wie eine mechanische Gliederpuppe, die im Cockpit ihre einstudierten Bewegungen absolviert: eine schön nach der anderen. Aber mein Kopf hat damit nichts mehr zu tun. Im Kopf herrscht gähnende Leere. Wie nennen sie das in Amerika? Living Zombies! Na, vielleicht ist es nicht ganz so schlimm. Kapitän Behrends ist doch hervorragend geschult, gut gedrillt, verlässlich abgerichtet. Aber ist es nicht ein bedrohliches Zeichen, dass mir solche Gedanken überhaupt kommen? So weit ist es mit mir, dass ich mich selbst schon für eine Gestalt aus dem Fernsehen halte.

       Genauso kommt es mir manchmal vor, genauso als würde sich das Leben von Norbert Behrends nur im Fernsehen abspielen, wobei dem Herrn Kapitän der Sinn für die Wirklichkeit allmählich abhanden kommt. Die Leute, für die ich die Verantwortung trage, die dreihundert Gestalten, die da in meinem Rücken sitzen, sind für mich ja auch bloß Nummern, nicht besser als die Leute, die auf einem Schirm vorüberflimmern. Das sind Schemen, Geister, Gespenster. Ich kenne sie nicht, sie kennen mich nicht. Gemeinsam ziehen wir durch den Äther und bleiben doch Fremde vom Start bis zur Landung, auch wenn sie meine Stimme ein paar Sekunden lang hören.

      „Hier spricht zu ihnen Kapitän Behrends, ich begrüße Sie herzlich zum Flug Nr. usw.“ Diese Worte könnte auch ein Roboter sprechen. Die Leute hören da sowieso nicht hin. Wer erinnert sich schon nach einem Flug an den Namen des Kapitäns?

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