Metastasen eines Verbrechens. Christoph Wagner

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Metastasen eines Verbrechens - Christoph Wagner Heidelbergkrimi

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darfst du nicht einmal denken!!

      Immer hab ich mich um Fritz gekümmert. Schon komisch – ich, das ein Jahr jüngere Mädchen.

      Doch jetzt ist alles anders. Was ist eigentlich los? Natürlich will ich ihn immer noch beschützen. Aber das reicht nicht. Ich will ihm einfach nah sein, immer – ganz nah.

      Aber er schneidet mich plötzlich … Hat wohl vergessen, was ich alles für ihn getan habe … Oder ist es einfach nur Angst, weil ich ein Mädchen bin?

      Wenn ich nichts verpasst habe, ist er noch nie einem Mädchen nahegekommen. Außer mir. Aber ich bin ja eigentlich nur so eine Art Schwester für ihn.

      Oder will er einfach überhaupt nichts von Mädchen wissen? … Sollte etwa dieser Noll …? Nein, das ist Blödsinn! Das kann überhaupt nicht sein!

      Fritz braucht mich einfach nicht mehr. Er ist selbst stark genug. … Ich bin überflüssig, zu nichts mehr nütze … abgelegt wie ein altes Kleidungsstück …

      Sie warf sich auf das Bett, verbarg ihr Gesicht im Kissen und fing heftig zu weinen an. Es fröstelte sie. Sie zog jetzt doch die Bettdecke über den Kopf. Sie wollte nichts mehr sehen und hören. Nie mehr!

      Wär alles leichter, wenn ich keine Jüdin wär? Was wär dann? Ich wär sicher beim BDM.

      Will ich das? Nein, nein und abermals nein!! Ich müsste dann ja diese blöde Uniform tragen. Da wird mir doch schon vom Hingucken schlecht. Was Scheußlicheres kann man doch gar nicht anziehen.

      Und dann erst das idiotische Gequatsche von diesen BDM-Tanten: „Wir wollen möglichst schnell dem Führer Söhne schenken!“ …

      Ich weine ja gar nicht mehr. Warum hab ich eigentlich geweint? …

      Vielleicht hat Fritz mich ja gar nicht weggeworfen. Er hat ganz bestimmt einfach nur Angst. … Aber nicht vor dem Mädchen – sondern weil ich Jüdin bin!

      In der HJ haben sie ihm sicher eingetrichtert, ein deutscher Junge darf nichts mit einer Jüdin zu tun haben … und er glaubt diesen Quatsch vielleicht wirklich.

      Ich muss auf ihn zugehen!

      Ich muss wieder für ihn sorgen!

      Ich kann das!

      In dem Moment spürte sie wieder Leben in sich, Erwartung. Sie summte eine Melodie vor sich hin, ihre Lieblingsstelle aus dem V. Brandenburgischen Konzert von Bach, das sie gerade im Geigenunterricht durchnahm. Voller Energie sprang sie aus dem Bett, griff nach ihrer Geige und fing an zu spielen. Einmal, zweimal, immer wieder, ohne zu merken, wie verstimmt das Instrument war. Sie tanzte mit der Geige.

      Plötzlich warf sie sie aufs Bett, tanzte weiter, streifte mit einer raschen Bewegung ihren Schlüpfer ab. Öffnete die Zimmertür, tanzte nackt durch den Flur, ins Schlafzimmer der Eltern, öffnete den großen Schrank. Da war ein Spiegel, in dem sie sich von Kopf bis Fuß betrachten konnte.

      Ich bin schön. Schöner als all diese dummen BDM-Gänse mit ihren Söhnen für den Führer!

      Wieder kam die Melodie über ihre Lippen, wieder begann sie zu tanzen, diesmal durch die ganze Wohnung. Sie wusste, sie war allein. Niemand würde sie beobachten. Am liebsten hätte sie so in den Garten hinausgetanzt …

      Wer wird mich so sehen, mich bewundern, weil ich so schön bin? … mich umarmen und küssen?

      Ich will mich in seine schützenden starken Arme fallenlassen, mit ihm eins werden.

      Nie mehr Angst haben müssen … keine Juden, Deutschen, Chinesen oder Eskimos mehr, keine Gesetze, die Liebe verbieten wollen.

      Nur noch ich selbst will ich sein, die schöne Hannah. …

      Aber wer bin ich eigentlich? Wer kann mir das sagen?

      Der, in dessen Armen ich liege! …

      Und wer soll das sein? – – Fritz?!

      Aber diese Scheiß-HJ! Die ist im Weg. … Was machen die da eigentlich? Fritz hat noch nie davon erzählt. …

      Das muss ich herausfinden. Bald. Unbedingt!

      Da hörte sie den Schlüssel in der Wohnungstür. Mit einigen schnellen Sätzen sprang sie zurück ins Bett und zog die Bettdecke über sich. Die Mutter sah nach ihr. Sie schläft, dachte sie, das ist gut, und schloss sofort wieder ganz vorsichtig die Tür.

      Der Vater legte sein Lektüre, eine neuere Biographie seines Lieblingskomponisten Johann Sebastian Bach, endgültig beiseite, wischte sich den Schweiß von der Stirn und sah seinen Sohn mit der Nachsicht des Älteren an.

      „Erklären soll ich das? Eigentlich ist das doch ganz einfach: So ist eben die Natur des Menschen.“

      Bernhard war wie vor den Kopf geschlagen.

      „Wie bitte? Die Natur des Menschen? Millionen sinnlos zu massakrieren? Die Jugend des eigenen Volkes zu verheizen? Das kann doch nicht dein Ernst sein!“

      „Vorsicht, so direkt darfst du es nicht nehmen. Was ich meine: Es gehört zur Natur des Menschen, ohne Sinn und Verstand zu handeln. Und das führt dann oft in die Katastrophe, siehe Erster Weltkrieg.“

      „Aber ich bring doch auch nicht ohne Grund einfach meine Mitmenschen um.“

      „Aber mit Grund schon?“

      „Natürlich auch nicht!“

      „Das will ich hoffen. Und warum tust du das nicht?“

      Bernhard war verwirrt. Die Frage war doch einfach absurd.

      „Das musst du doch am besten wissen. Man darf einfach nicht töten.“

      „Siehste?“

      „Ich versteh jetzt gar nichts mehr.“

      „So schwer ist das doch nicht. Du sagst: ‚Man darf einfach nicht töten.‘ Ganz richtig. Aber woher weißt du das?“

      Bernhard begann zu ahnen, worauf der Vater hinaus wollte. Doch er zögerte mit einer Antwort. So fuhr der Vater fort und begann zu dozieren: „Hast du jemals einen Menschen töten wollen und dann auf Grund logischer Erwägungen beschlossen, es nicht zu tun?“

      „Ich? Nein.“

      „Das bedeutet aber, auch du hast letztlich ohne Sinn und Verstand gehandelt, sondern auf Grund von Normen, die du durch Erziehung, gesellschaftliches Umfeld, Freunde, gute oder schlimme Erfahrungen et cetera in dich aufgenommen hast.“

      „Aber damit kann man dann ja alles entschuldigen.“

      „Nicht entschuldigen, sondern erklären. Das ist etwas grundsätzlich anderes. Ich habe in meinem Job schon mit einer Vielzahl von Verbrechen zu tun gehabt. Und jedes Mal stelle ich mir wieder die Frage nach dem Motiv, nach dem Warum. Wenn man da tief genug bohrt, kommt man eigentlich immer in einen Bereich,

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