Metastasen eines Verbrechens. Christoph Wagner

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Metastasen eines Verbrechens - Christoph Wagner Heidelbergkrimi

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sich das jemals ändern?“

      „Vielleicht, indem man anfängt, die Dinge auf eine andere Weise zu betrachten. Du hast dich entschieden, Geschichte zu studieren. Das freut mich, wie du weißt. Ich denke, gerade hier lässt sich besonders gut zeigen, was ich meine.“

      „Nämlich?“

      „Nehmen wir den Ersten Weltkrieg, denn der ist in der Tat ein besonders drastisches Beispiel. Was sich, so weit ich weiß, kaum in der Literatur findet, ist die Frage nach den verborgenen, nicht bewussten Normen, Idealen, Zwängen, die zu diesem aberwitzigen Desaster geführt haben. Man versucht immer, die Sache rational zu erklären. Da ist zunächst der Auslöser, das Attentat von Sarajewo, auf dem Hintergrund einer insgesamt angespannten politischen Lage. Dann werden die logischen Mechanismen beschrieben, wie daraus der große Krieg wurde. Aber das ist alles Unfug. Denn da war eben nichts logisch. Das Denken wurde nur dazu verwendet, die eigenen Vorurteile und vor allem verqueren Ehrbegriffe zu legitimieren. Denn für die, die wirklich nachgedacht haben, war damals schon klar: Was hier geschieht, ist Wahnsinn – und vor allem ein Verbrechen. Aber nicht nur die Führer der Nationen waren in diesen verheerenden Irrationalitäten gefangen, sondern auch das sogenannte einfache Volk. Hast du schon einmal historische Filmaufnahmen gesehen von den Soldaten, wie sie in den Krieg ziehen?“

      „Nein.“

      „Da hast du den Wahnsinn in Reinkultur. Es ist überhaupt nicht zu fassen, mit welcher Begeisterung, mit welchem Hurra und Tschingderassabum die damals Fähnchen schwingend auf die Schlachtfelder gezogen sind. Als ob es zum Jahrmarkt ginge. Forsche mal nach, was diese Menschen dazu getrieben hat, ihr Denken schlicht und einfach abzustellen und wie die Lemminge in den Tod zu rennen. Nur wenn wir diese Mechanismen durchschauen, können wir Wege finden, es besser zu machen.“

      „Sollte ich da nicht besser Psychologie studieren?“

      „Mindestens im Nebenfach. Ich verstehe ohnehin nicht, wie jemand Geschichte erklären will, wenn er keine Ahnung hat, wie die menschliche Seele funktioniert. Ich will dir noch ein Beispiel geben. Es ist immer wieder die Frage gestellt worden, wie war nur nach diesem furchtbaren Ersten Weltkrieg die Steigerung zum Zweiten möglich? Die Leute hätten doch eigentlich genug haben müssen von der Schlächterei. Natürlich – wenn sie vernunftgemäß gehandelt hätten. Haben sie aber nicht. Und warum nicht? Mir erscheint folgende Erklärung am plausibelsten: Am Ende des Ersten Weltkriegs war nahezu die gesamte jüngere männliche Bevölkerung Deutschlands entweder tot oder verwundet, körperlich wie seelisch schwerstens beschädigt. Tagaus, tagein hatten sie massenhaft getötet, hatten ständig ihre zerfetzten und verstümmelten Kameraden vor Augen, mussten ständig damit rechnen, da selbst zu liegen. Und als nach vier Jahren endlich alles vorbei war, kam der große Frust hinzu. Sie hatten verloren. Die ganze Schlächterei umsonst. Was kannst du von solchen Menschen erwarten, und auch von den Jüngeren, die sie erzogen haben? Ein ganzes Volk mit einer posttraumatischen Belastungsstörung. Das konnte nicht einfach ‚normal‘ weitergehen. Die nächste Katas­trophe war bereits programmiert, lange bevor sie eintrat.“

      „Aber das geht doch dann immer so weiter.“

      „Es muss nicht. Es gibt Hoffnung.“

      „Jetzt widersprichst du dir aber.“

      „Vielleicht. Aber ihr Jungen könnt es ändern.

      „Wie soll das gehen?“

      „Indem ihr endlich damit anfangt.“

      „Womit?“

      „Mit dem Nachdenken.“

      Mittwoch, 14. August 2013

      Es war ein strahlender Sommermorgen, kein Wölkchen am Himmel. Ein leichter Wind wehte von Südosten. Noch war die Luft angenehm. Aber bald würde die Hitze wieder unerträglich werden, die schon seit mehreren Tagen Heidelberg fest im Griff hatte.

      Vor dem Asylbewerberheim draußen im Pfaffengrunder Industriegebiet hörte man helles Lachen und freudiges Schreien. Auf einem Brachgelände auf der gegenüberliegenden Straßenseite spielten fünf Kinder, vier Mädchen und ein Junge, mit einem roten Ball. Sie kamen aus verschiedenen Ländern mit unterschiedlichen Sprachen. Dennoch verstanden sie sich spielend und waren glücklich. Für Augenblicke konnten sie die furchtbaren Erlebnisse vergessen, die sie hier in der Fremde zusammengeführt hatten und die sie oft nachts nicht schlafen ließen.

      Doch dann standen unversehens zwei junge Männer unter ihnen, kahlgeschoren, in schwarzem Lederzeug und Springerstiefeln. Die Kinder hatten sie nicht kommen sehen. Einer von ihnen fing den Ball auf, warf ihn seinem Kumpel zu, der warf ihn wieder zurück. So ging es eine Weile. Die Kinder waren erst arglos, hielten das für Spaß, wollten mitspielen, versuchten, den Ball zurückzuerobern.

      Doch dann hatte der eine plötzlich ein Messer in der Hand, warf den Ball hoch und fing ihn mit dem Messer auf. Die Luft entwich zischend. Entsetzt schauten die Kinder auf den kaputten Ball, begriffen endlich, dass das hier kein Spaß war, und liefen schreiend davon. Eines der Mädchen war zu langsam. Es war die Kleinste, wohl gerade erst vier Jahre alt. Die beiden Kerle fassten sie und schubsten sie ein paarmal zwischen sich hin und her.

      Dann griff sie der mit dem Messer bei den langen schwarzen Haaren, hob sie hoch – sie schrie fürchterlich – und durchschnitt ihr schönes Haar, so dass sie auf den Boden fiel. Ehe sie sich aufrappeln konnte, packte sie der andere mit festem Griff an den Händen. Er schlenkerte sie ein paarmal hin und her und sagte dann: „Na, du kleine Araberhure, wie gefällt dir das?“

      Das Kind sah ihn völlig erstarrt mit großen Augen an.

      „Ich hab eine Idee. Du lernst jetzt fliegen. Pass mal auf.“

      Er fasste ihre Arme jetzt auch mit der zweiten Hand, drehte sich mehrmals wie ein Hammerwerfer um die eigene Achse und schleuderte sie dann in die Luft. Das Kind flog einige Meter weit, schlug auf der Straße auf, rutschte weiter, bis es an der Bordsteinkante zum Fußweg leise wimmernd liegenblieb.

      In diesem Augenblick kamen wild gestikulierend zwei Frauen aus dem Haus gerannt, um dem Mädchen beizustehen. Die anderen Kinder waren hinter ihnen, aber sie blieben in der Tür stehen. Doch die Skins versperrten den Frauen den Weg und schlugen ihnen heftig ins Gesicht. Die eine konnte fliehen, während die andere niedergerissen wurde. Einer der beiden sprang auf sie, setzte sich auf ihren Bauch und legte ihr das Messer an den Hals. Die Frau zitterte am ganzen Körper.

      „So, du Araberfotze, hast wohl gedacht, du kannst hier einfach nach Deutschland kommen und dir auf unsere Kosten ein schönes Leben machen. Nee, nee, is nich. Das werden wir zu verhindern wissen.“

      Mit einem schnellen Griff riss er ihr Kopftuch herunter.

      „Na, was hast du für schöne schwarze Haare! Die solltest du aber nicht unter dem Lappen da verstecken!“

      Er packte eine dicke Strähne und schnitt sie mit seinem Messer ab.

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