Metastasen eines Verbrechens. Christoph Wagner

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Metastasen eines Verbrechens - Christoph Wagner Heidelbergkrimi

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      Eine Weile schwiegen alle. Fries sah abwechselnd auf seinen Teller und aus dem Fenster hinaus. Sein Gesicht strahlte jetzt längst nicht mehr so viel joviale Heiterkeit aus. Dann fing er ganz unvermittelt an zu erzählen.

      „Wissen Sie, damals, es war Ende Oktober ’44, da war ich auf Heimaturlaub in Mannheim nach furchtbaren Gefechten an der Westfront. Aber ich kam vom Regen in die Traufe, in den schlimmsten Bombenangriff auf Mannheim während des Krieges. Ich war gerade zu Besuch bei einem Freund. Das rettete mir das Leben. Denn nach dem Angriff sah ich, dass unser Haus und alles drum herum zerbombt war, auch die Keller. … Meine ganze Familie ist in dieser Nacht ums Leben gekommen, verbrannt.“

      Hier konnte er nicht mehr weitersprechen. Schon bei den letzten Worten war seine Stimme brüchig geworden.

      „Ja, der Krieg“, entgegnete Hedwig. „Wie viele Leben hat er ruiniert ...“

      Ohne auf Hedwigs Worte zu achten, fuhr Fries kaum verständlich fort: „Es kam noch schlimmer. Ich hatte eine wunderbare Freundin. Wir wollten heiraten, sobald der Krieg zu Ende war. Als ich nach ihr suchte, fand ich das Haus, in dem sie lebte, vollkommen zerstört vor. Ich habe sie nicht wiedergefunden.“

      *

      Nach dem Essen hatten sich die beiden Frauen zur Mittagsruhe zurückgezogen.

      „Wir haben da ja wohl einen Leidensgenossen gefunden. Was meinst du zu ihm?“, fragte Hedwig.

      Hannah ließ sich lange Zeit mit der Antwort: „Ja, mag sein.“

      „Aber irgendetwas scheint dich an ihm zu stören.“

      „Na ja … er hat mich unruhig gemacht. ... Das ist nur so ein Gefühl, ich weiß gar nicht, wie ich es ausdrücken soll. … Bevor er seine Geschichte erzählt hat, war er so laut, … als müsste er etwas übertönen …“

      „Aber er ist doch auch sehr charmant. Mich macht es froh, dass wir hier gleich Anschluss gefunden haben.“

      „Wahrscheinlich tue ich ihm ja Unrecht. Ich bin noch zu sehr mit mir selbst beschäftigt. Ich will mich einfach noch nicht damit abfinden, dass ich nie mehr aus meinem schönen Turmzimmer auf Heidelberg hinunter sehen kann.“

      „Aber vielleicht kann uns da eine neue Bekanntschaft helfen.“

      „Ja, vielleicht …“

      August 1924

      „Fritzchen ist reingefallen!“, schrie die sechsjährige Marianne, „Tante Ruth, Tante Ruth, komm schnell!“

      In panischer Angst rannte das Mädchen den Abhang hinauf zu der prächtigen Villa im Graimbergweg, die die Familien Wiechmann und Rosenbaum schon seit mehr als zehn Jahren gemeinsam bewohnten.

      Ruth Rosenbaum saß an diesem heißen Augusttag bei offenem Fenster mit einer Strickarbeit in ihrem Wohnzimmer im ersten Stock, das zum Garten lag. Als sie das schreiende Kind auf das Haus zu laufen sah, schreckte sie auf, warf ihr Strickzeug hin und rannte die Treppe hinunter. In der Tür zum Garten stieß sie fast mit Marianne zusammen.

      „Kind, was ist passiert?“

      „Fritzchen ist – zum Teich – gelaufen – und ist reingefallen“, stieß sie weinend hervor.

      „Du solltest doch aufpassen!“, schrie Ruth Rosenbaum, stieß sie zur Seite und hetzte, ohne weiter auf sie zu achten, zwischen den Apfelbäumen hindurch zum Gartenteich in der hinteren Ecke des Grundstücks hinunter. Am Rand kniete ihr kleiner Sohn, der dreijährige Emanuel, und versuchte weinend, mit seinen kleinen Händen Fritzchen zu erreichen. Aber seine Arme waren zu kurz. Die Mutter riss ihn weg, so dass er laut aufschrie.

      „Nicht, dass du mir hier auch noch reinfällst!“

      Sie sprang in den Teich, dessen Wasser ihr bis zu den Knien reichte, zog das Kind heraus und legte es auf den Rücken neben die Beckenumrandung. Sie schlug leicht auf seine Wangen.

      „Fritzchen, aufwachen! Fritzchen, mach schon!“

      Aber das Kind atmete nicht mehr. Die gelernte Krankenschwester legte ihren Mund auf den Mund des Kindes, blies heftig Luft in die Lungen und begann dann mit den Handballen in schnellen, rhythmischen Bewegungen den Brustkorb zusammenzudrücken und wieder loszulassen. Marianne und Emanuel standen mit bleichen Gesichtern daneben und sahen ihr angstvoll zu.

      „Was steht ihr hier herum? Marianne, du kannst schon telefonieren. Lauf ins Haus und ruf Dr. Milbraadt an. Sag ihm, was passiert ist. Er muss sofort kommen! Sofort!“

      Während Marianne loslief, hockte sich Emanuel neben seine Mutter und begann ganz sacht Fritzchens Füße zu streicheln.

      Ruth Rosenbaum setzte mit sicheren Handgriffen Herzmassage und Mund-zu-Mund-Beatmung fort. Es war ein großes Glück, dass sie genau wusste, was zu tun war.

      Sie lief im Gesicht rot an und ihr Atem ging hektisch. Mein Gott, mein Gott, lass ihn wieder aufwachen! Ich bin schuld, wenn er stirbt. Ich hätte besser aufpassen müssen, hätte die Kinder nicht alleine lassen dürfen. Sind noch zu klein. Wie soll ich das Paul und Maria erklären? Wie lange mag Fritzchen schon im Wasser gelegen haben? Vielleicht hatte ja alles keinen Sinn mehr. Sie versuchte, diese Gedanken beiseite zu schie­ben, und arbeitete mechanisch weiter.

      Bald kam Marianne zurück und sagte ganz schüchtern: „Dr. Milbraadt kommt in zwei Minuten.“

      Ruth Rosenbaum nahm das gar nicht wahr und sie achtete auch nicht darauf, dass ihr zweites Kind, die knapp einjährige Hannah, die in ihrer Wiege neben der Tür zum Garten lag, plötzlich fürchterlich zu schreien anfing. Verbissen fuhr sie mit ihren Wiederbelebungsversuchen fort: Drücken – loslassen – drücken – loslassen, nach vier Mal Luft in die Lungen blasen und wieder ausströmen lassen.

      Dann die Erlösung: Durch den kleinen Körper ging plötzlich ein Ruck und Fritzchen schnappte nach Luft. Sie drehte das Kind auf die Seite und es spuckte viel Wasser. Erleichtert atmete Ruth Rosenbaum tief durch. Die größte Gefahr schien gebannt. War doch noch einmal alles gutgegangen?

      In diesem Augenblick kam ein wohlbeleibter älterer Herr, trotz der Hitze mit einem dunklen längsgestreiften Anzug, weißem Hemd und graukarierter Weste bekleidet, heftig keuchend und völlig verschwitzt den Abhang herunter gelaufen. Es war Dr. Milbraadt, der langjährige Hausarzt der beiden Familien.

      „Wie sieht es aus?“, fragte er erregt.

      „Gerade eben hat er wieder zu atmen angefangen.“

      „Dann danken Sie Gott, dass Sie Krankenschwester gelernt haben. Wenn ich jetzt erst mit der Wiederbelebung beginnen würde, wäre es wahrscheinlich zu spät. Wie lange stand das Herz still?“

      „Ich weiß es nicht genau, aber einige Minuten waren es schon.“

      Dr. Milbraadt kniete sich mühsam neben den Jungen, sah in seine Augen und fühlte nach dem Puls, der schnell und unregelmäßig ging.

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