Metastasen eines Verbrechens. Christoph Wagner
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„Ich gehe voraus“, sagte sie und führte die Ankömmlinge, ohne sich umzuschauen, durch einen langen breiten Gang zum Lift. Hier mussten sie warten und Frau Siegwalt sagte, nur um die gedrückte Atmosphäre etwas aufzulockern: „Wir müssen jetzt in den dritten Stock.“
„Das wissen wir doch“, gab Hannah Lewandowski unwirsch zurück.
Etwas irritiert versuchte Frau Siegwalt, das Gespräch am Laufen zu halten: „Sie werden sehen, wir haben alles nach Ihren Wünschen eingerichtet. Es wird Ihnen sicher sehr gut bei uns gefallen.“
Niemand antwortete. Benjamin Lewandowski registrierte besorgt, wie die Gesichter seiner beiden Schützlinge immer starrer wurden. Besonders Hedwig schien dem Weinen nahe zu sein. Hoffentlich geht alles gut, dachte er.
Nachdem sie im dritten Stock angekommen waren, ging Frau Siegwalt wieder voraus und der kleine Trupp bewegte sich langsam wie ein Trauerzug über den Gang, bog um mehrere Ecken, bis er die Wohnung erreichte. Frau Siegwalt schloss auf und ließ die beiden alten Damen vorausgehen.
Durch einen kurzen Flur traten sie in das Wohnzimmer, dessen große Stirnfenster sehr viel Licht hereinließen und einen traumhaften Blick über die Rheinebene boten. Allerdings wollte das Wetter nicht mitspielen. Der April machte seinem Namen alle Ehre. Die Sonne war nun ganz hinter den tief hängenden Wolken verschwunden. Es begann zu regnen.
Eine Weile standen die beiden still im Raum, ohne sich umzusehen. Da liefen Hedwig Fahrenkopf mit einem Male dicke Tränen über die Wangen.
„Hannah, ich kann das nicht!“, rief sie schluchzend und barg ihr Gesicht an der Schulter ihrer Freundin. Der Regen schlug jetzt heftig gegen die Fensterscheiben.
*
Benjamin Lewandowski hatte viel Zeit und Kraft aufwenden müssen, seine Schwiegermutter einigermaßen zu beruhigen. Dann ging er hinunter zum Auto, um die Koffer zu holen, während Frau Siegwalt den neuen Bewohnerinnen die verschiedenen Örtlichkeiten zeigte: den Speiseraum, die Bibliothek, das Café, den Andachtsraum und den Veranstaltungssaal. Selbst ein richtiges Theater gab es hier, einen Friseur und auch noch einen kleinen Laden, in dem man alles für den täglichen Bedarf erstehen konnte.
Gegen zwölf verließ Benjamin Lewandowski die beiden Alten, da er unbedingt einen Geschäftskollegen treffen musste. Hannah und Hedwig saßen nun schweigend auf ihrer neuen, mit hellbeigem Cordstoff bezogenen Wohnzimmercouch und hielten einander die Hände. Sie brauchten schon lange kaum noch Worte, um sich zu verständigen. Hannah war 1923 und Hedwig 1929 in der alten Villa am Graimbergweg geboren worden, und dort hatten sie nahezu ihr ganzes Leben gemeinsam verbracht. Nur in den Wirren des Zweiten Weltkriegs waren sie getrennt, hatten Furchtbares erlebt, was sie hinterher umso inniger verband.
Um Viertel nach zwölf klopfte es an der Tür. Hannah rief: „Herein.“
Die Tür öffnete sich, eine kleine, zierliche Pflegerin asiatischer Herkunft trat ein und sprach sie sehr freundlich an: „Ich bin Fengzhi Zhang. Ich Sie zum Mittagessen bringen.“
„Na, dann wollen wir“, erwiderte Hannah entschlossen.
Sie gingen den gewinkelten Flur zum Aufzug zurück, fuhren hinunter ins Erdgeschoss und mussten wieder durch einen langen Gang gehen, ehe sie den Speisesaal erreichten. Fengzhi Zhang ging auf einen Tisch an der langen Fensterfront zu.
„Hier Sie bitte Platz nehmen. Ich vorstellen Herr Adolf Reimann und Herr Fritjof Fries.“
Während der Herr Reimann gar nicht reagierte, erhob sich Fries und begrüßte die Neuzugänge überschwänglich.
„Seien Sie herzlich begrüßt, meine Damen. Ich bin ja so froh, dass wir endlich wieder Gesellschaft bekommen, und noch dazu so charmante. Ich will Sie ja nicht erschrecken, aber die beiden Damen, die früher hier saßen …“
„Tief ist Deutschland gefallen ... jetzt sind die Chinesen schon hier“, unterbrach ihn sein Tischnachbar mit schnarrender Stimme.
„Ach, Herr Reimann, das ist doch gar nicht weiter schlimm. Ganz im Gegenteil. Es gibt leider zu wenig Deutsche, die diese Arbeit machen wollen. Deswegen müssen wir doch froh sein, dass Menschen aus fremden Ländern zu uns kommen, um uns zu helfen. Und Fengzhi Zhang ist doch ausgesprochen freundlich und zuvorkommend, eine Bereicherung für das Haus.“
Adolf Reimann brummte unverständlich vor sich hin, bevor er wieder in Schweigen verfiel und sein Gesicht einen völlig leeren Ausdruck annahm.
Fries wandte sich wieder den beiden Damen zu. „Entschuldigen Sie, aber er lebt schon seit Jahren in seiner eigenen Welt … Wo war ich noch mal stehengeblieben? Ach ja, Ihre Vorgängerinnen auf diesen Plätzen. Wie gesagt, ich will Sie nicht erschrecken. Aber vor einem Monat haben sich die beiden Damen innerhalb von zehn Tagen nacheinander verabschiedet. Ich bin jetzt bereits neun lange Jahre in diesem Haus. Ich zähle gar nicht mehr mit, wie viele Tischnachbarn sich in der Zeit schon auf Wolke sieben davongemacht haben. Aber Sie werden mir doch hoffentlich lange erhalten bleiben. Seit wann sind Sie im Haus?“
„Wir sind heute Vormittag angekommen“, antwortete Hedwig und versuchte, ihn freundlich anzusehen. Hannah war überrascht und froh, dass ihre Freundin von sich aus am Tischgespräch teilnahm. Denn sie konnte gar nicht richtig zuhören, so sehr war auch sie noch in dem Schmerz über den endgültigen Verlust ihrer Villa gefangen.
„Ich bin Ihnen gerne behilflich bei der Eingewöhnung. Ich sagte ja schon, ich lebe seit neun Jahren hier und kenne alles genau.“
„Dann haben wir ja wohl großes Glück gehabt, dass wir gerade zu Ihnen an den Tisch gekommen sind“, entgegnete Hedwig und versuchte zu lächeln.
Mittlerweile hatte eine Küchenhilfe die Suppe aufgetragen.
„Mal sehen, was die uns heute zumuten“, meinte Fries lachend. „In diesem Haus kann man sich wirklich sehr wohl fühlen. Aber das Essen – leider oft sehr fad. Ach, Grießklößchensuppe haben die heute mal wieder, die gibt es oft. Und die schmeckt ausnahmsweise richtig gut. Aber vielleicht bin ich auch verwöhnt. Wissen Sie, ich habe lange in …“
„Wer soll die Welt noch verstehen?“, unterbrach ihn wieder die schnarrende Stimme von Adolf Reimann. „Ein Nigger als Präsident in Amerika … und Deutschland von einer Frau regiert … da geht alles bergab … und beim Militär soll’s jetzt auch Frauen geben … dann gute Nacht, wenn der Russe kommt! ...“
Fries sah achselzuckend zu Hannah und Hedwig hinüber. Reimann war ganz rot im Gesicht angelaufen. Er schnaufte heftig. Dieses ungewöhnlich lange Statement hatte ihn offenbar sehr angestrengt. Fries legte ihm begütigend die Hand auf den Arm. „Reimann, beruhigen Sie sich. Alles halb so schlimm. Und uns kann es eh egal sein. Wir haben alles bald hinter uns. Sollen sich die Jungen damit herumschlagen.“
Der Alte drehte seinen Kopf zu ihm hin und wollte noch etwas sagen, hatte aber bereits vergessen, was es war. Sein Gesicht verfiel wieder in Ausdruckslosigkeit. Er wandte sich seinem Teller zu und begann geräuschvoll die Suppe zu löffeln.
„Wo war ich? Ach ja, beim Essen. Ich habe lange in Argentinien gelebt. Die können dort kochen!“
„Was hat Sie denn nach Argentinien geführt?“, unterbrach Hannah plötzlich seinen Monolog. „Argentinien“ hatte sie aufhorchen lassen.
Fries sah sie überrascht an. Die Frage schien ihn