Diebsgrund. Gitte Loew
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„Ich bin weggegangen, weil ich geglaubt habe, in Deutschland wäre es besser.“
Plötzlich hielt er inne und sah sie dabei böse an. Warum verstand sie ihn nicht?
„Ich wollte endlich frei sein und ein besseres Leben haben. Wir waren arm.“
Annemarie war zu müde und wollte nicht an frühere Zeiten erinnert werden. Die waren glücklicherweise vorbei. Doch Valentins Erinnerungen stiegen wie dumpfe Luft hoch, und er stammelte mit schwerer Zunge:
„Ich habe gehofft, hier würde es besser sein. Doch alles ging schief. Die Arbeit, das mit der Wohnung und dann der Ärger mit meiner Frau. Hier im Westen hast du nur Freunde, wenn du Geld hast. In Sibirien waren wir arme deutsche Schweine unter armen russischen Schweinen. Wir mussten zusammenarbeiten und miteinander auskommen. Aber die haben mich wenigstens verstanden. Im Westen versteht mich kein Mensch.“
Er spürte mittlerweile die Schwere des Alkohols, und die Tabletten zeigten ihre Wirkung. Sein Kopf neigte sich immer mehr nach vorn und sank nach einiger Zeit sachte auf den Tisch.
Annemarie stöhnte bei diesem Anblick auf, schenkte sich noch einen Schnaps ein und beobachtete den schlafenden Valentin. Er zog sie runter. Sein ganzes beschissenes Leben zog sie runter. Warum hatte sie die Tür aufgemacht? Sie wusste es selbst nicht. Wusste nur, dass sie manchmal auch so kaputt und am Ende war wie Valentin jetzt. Schwerfällig stand sie auf und versuchte ihn hochzuziehen. Doch der schlafende Mann war schwer wie ein Stein. Sie rüttelte an seiner Schulter, aber er bewegte sich nicht. Er konnte nicht aufstehen, sondern rutschte stattdessen vom Stuhl. Lag auf dem Fußboden wie hingeworfen. Ohne Kraft, die Arme und Beine verdreht, schutzlos, als hätte jemand auf ihn geschossen. Annemarie holte ein Kissen vom Sofa und schob es mit viel Anstrengung unter seinen Kopf. Dann legte sie eine alte Decke über den leblosen Körper, denn in der Nacht würde es kalt werden. Wer weiß, an was er gerade dachte, bestimmt an nichts Gutes. Sollte er schlafen und sich ausruhen, morgen früh würden sie weiterreden. Annemarie löschte das Licht und schlurfte ins Schlafzimmer.
Als sie im Bett lag, konnte sie trotz ihrer Müdigkeit nicht einschlafen. Was hatte sie sich da wieder aufgebürdet? Sie konnte nicht bei Verstand sein. Kam mit ihrem eigenen Leben nicht zurecht und ließ einen Verrückten in ihre Wohnung. Sie drehte sich von der linken auf die rechte Seite und fand keinen Schlaf. Müde kroch sie wieder aus dem Bett und schlurfte in die Küche zurück. Valentin lag noch immer so hilflos auf dem Boden. Annemarie stöhnte auf und schenkte sich nochmals Schnaps nach. Sie wusste, dass es falsch war, aber das Wüten in ihrem Kopf sollte aufhören. Sie schluchzte, und Tränen liefen über ihr Gesicht. Valentin sollte verschwinden und mit ihm all das Schreckliche, das er mit sich herumtrug. Von Sibirien nach Frankfurt und wer weiß wohin.
4. Kapitel
Karoline öffnete das Fenster und schaute in den sonnigen Morgen. Die Bäume standen in saftigem Grün. Der Frühling war für sie ein alljährliches Wunder, das ihr nach dem Tod ihres Mannes die Kraft zum Weiterleben gab. Sie ging zum Tisch zurück, trank den letzten Schluck Kaffee aus und räumte das Geschirr in die Spüle. Ihre Tasche stand fertig gepackt im Flur. Mit einem prüfenden Blick vergewisserte sie sich, dass alle elektrischen Geräte ausgeschaltet waren. Dann trat sie ins Treppenhaus und stieg die Stufen nach unten. Vor den Briefkästen blieb sie stehen und zog die Werbezettel heraus. In diesem Moment ging die Haustür auf, und die neue Mieterin aus dem ersten Stock stand vor ihr.
„Einen recht schönen guten Morgen“, grüßte Karoline freundlich und sah die Frau erwartungsvoll an.
Doch die lief in Eile an ihr vorbei und murmelte kurz: „Guten Morgen“, und war auch schon verschwunden.
Karoline blickte ihr nach und zuckte mit den Schultern. Dann eben nicht. Es war immer das Gleiche. Die neuen Mieter hatten keine Zeit. Sie rannten morgens zur Arbeit und kamen abends todmüde nach Hause. Die Mieten im Frankfurter Westend waren schon immer hoch gewesen, aber mittlerweile konnten sich nur noch wenige eine Wohnung in dieser Gegend leisten. Karoline hatte vor zwei Jahren die Hauswartarbeiten übernommen, um weiter hier wohnen zu können. Nach Friedrichs Tod war das Geld knapp geworden. Die Versicherung teilte ihr damals mit, dass sie die große Witwenrente erhalten würde. Mit dem, was man ihr tatsächlich überwies, konnte sie allerdings nur kleine Sprünge machen. Vierzig Jahre lebte sie nun in dieser Wohnung. Es war undenkbar für sie, auf ihre alten Tage noch einmal umzuziehen. Sie schüttelte traurig den Kopf. Ihr Garten und das Zuhause waren ihre Zuflucht, das einzig Vertraute in einer Welt, die ihr mehr und mehr fremd geworden war.
Sie überquerte in Gedanken versunken die Senckenberg-Anlage. Als sie um halb zehn durch die Leipziger Straße schlenderte, herrschte bereits viel Betrieb. Studenten hasteten an ihr vorbei und Rentner zogen ihre Einkaufswagen hinter sich her. Karoline ging gern hier einkaufen. Im Winter vermisste sie die langen Spaziergänge, besonders seit es Friedrich nicht mehr gab. In fünfzig Jahren Ehe gewöhnt man sich aneinander. Niemand fragte sie nun: „Wie geht’s?“ Stattdessen bekam sie zu hören: „Es geht immer weiter, man gewöhnt sich an das Alleinsein.“
Ihre Bekannte Henriette hatte sie zu Friedrichs Beerdigung begleitet und danach ziemlich nüchtern festgestellt: „Dein Friedrich war ein guter Mann.“
Nach der Trauerfeier tranken sie eine Tasse Kaffee zusammen, aber das war auch schon alles. Karoline fühlte sich in dieser Zeit, als ob alle Lichter ausgegangen wären. Sie würgte die aufsteigenden Tränen hinunter. Bloß nicht heulen, dann wurde es nur noch schlimmer. Die Leipziger Straße war ein Relikt aus glücklicheren Tagen. Die Häuser hatten vieles überdauert und erinnerten Karoline an das Frankfurt der fünfziger Jahre. In den Trümmern wuchsen die Hoffnungen schneller als das Unkraut auf dem Schutt. Jeder hatte Ideen und wollte etwas tun. Davongekommen zu sein machte alle glücklich.
Plötzlich schreckte sie aus ihren Tagträumen auf, da hatte doch jemand nach ihr gerufen?
„Karoline, warte doch, lauf nicht weg!“
Eine dicke Frau eilte atemlos auf sie zu. Als sie näher kam, erkannte Karoline eine frühere Arbeitskollegin. Oje, das würde wieder dauern. Laut sagte sie:
„Hallo, Margarete, was für ein Zufall, wie geht‘s?“
„Immer so weiter, Bluthochdruck und anderes Zeug, aber ich lass mich nicht unterkriegen“, meinte sie lachend.
Karoline glaubte ihr aufs Wort, denn Margarete war schon immer unbeschadet durch alle Hochs und Tiefs des Lebens gekommen. Abgesehen von einem Mehr an Gewicht hatte sie sich wenig verändert. Sie blickte noch immer neugierig in die Welt, und ihr Mundwerk stand nie still.
„Bist du unterwegs zum Einkaufen?“ Margarete reckte neugierig den Hals nach Karolines Tasche.
„Nein ich brauch nichts, bin nur auf dem Weg in den Garten.“ Karoline überlegte angestrengt, wie sie sich am schnellsten aus dem Staub machen konnte.
„Ja, die Leipziger ist schöner zum Einkaufen als die Neue Zeil. Hier findet man noch alles, was man braucht“, meinte Margarete wehmütig.
„Stimmt! Auf die Zeil gehe ich nur noch selten zum Einkaufen. Früher im Kaufhaus Schneider, da hab ich gern eingekauft, dort gab‘s noch Qualität. Heute muss alles billig sein, und am Ende taugt es nichts“, pflichtete Karoline ihr bei.
„Wie sieht’s denn heute bei dir so aus? Wollen wir zusammen ein bisschen bummeln gehen?“ Margarete sah sie fragend an.
Karoline suchte krampfhaft nach einer Ausrede, aber