Die Vergessenen. Eckhard Lange

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wohl bedacht sein. Laß dir also Zeit, und wenn du dich entschieden hast, dann sag es mir.“ Aber Andronikus hatte sich bereits entschieden. Waren nicht die meisten aus der Gemeinde des Stephanus nach Syrien geflohen; gab es nicht eine große Gemeinde gerade in Antiochia, dieser Metropole des Ostens? Was er kaum zu träumen gewagt hatte, jetzt könnte es Wirklichkeit werden: Er würde die Geschwister von einst dort wiedertreffen, er könnte wieder das Mahl mit ihnen feiern und endlich auch den Lehrern lauschen, die er solange vermisst hatte. Dennoch ließ er sich einen Tag Zeit, ehe er seinem Herrn zusagte.

      Bald darauf schon kam der junge Jude Andronikus nach Antochia und nahm in einer Herberge Quartier. Noch ehe er sich eine Wohnung suchte, forschte er nach den Stephanusjüngern, die man hier in der Stadt allgemein „die Christen“ nannte. Barnabas und Lucius kannte er noch von früher, sie waren jetzt die Leiter der Gemeinde. So fragte er sich nach Lucius durch, der inzwischen auch im Rat des Stadtteils saß. Als er dessen Haus betrat, sah er zum ersten Mal jene junge Frau mit Namen Junia, ohne zu wissen, daß sie für viele Jahre miteinander leben und arbeiten würden. Junia war hoch aufgeschossen, fast noch größer als Andronikus, sie hatte ein schmales Gesicht, auch ihre Gestalt war schlank, fast konnte man sie mager nennen. Ihr dunkles Haar war unter einem Schleier verborgen.

      Erst glaubte er, eine Sklavin vor sich zu haben, und bat sie, ihn ihrem Herrn zu melden. Sie lächelte ihn an: „Melden will ich dich gerne, Fremder, aber wenn du Lucius meinst – er ist nicht mein Herr und auch nicht mein Patron.“ Sie führte ihn in einen kleinen Raum, das Haus des Lucius besaß zwar ein Peristyl, doch der Hof war eng und ohne Säulen, nur zum Triclinium hin wurde die Öffnung von einer schmalen Säule geteilt. „Warte hier, bitte,“ sagte die junge Frau und zeigte auf eine Kline an der Wand. „Sagst du mir auch deinen Namen, damit ich dich Bruder Lucius melden kann?“ Andronicus blickte sie an: „Du nennst ihn Bruder? Dann bist du eine Schwester, nicht wahr, getauft auf den Namen unseres Herrn?“

      Junia nickte, dann antwortete sie mit einem Anflug von Ironie: „Wenn du mir schon deinen verschweigst, will ich dir doch meinen Namen nennen: Ja, ich bin getauft. Ich heiße Junia, und ich bin die Tochter des Chusa und der Johanna aus Magdala.“ Andronikus errötete ein wenig. „Entschuldige, ich war nur so froh, endlich wieder Brüder und Schwestern zu treffen. Ich bin Andronikus, und ich komme aus Jerusalem. Allerdings nicht von den Brüdern um Petrus und den Söhnen des Zebedäus geschickt, sondern in einer geschäftlichen Angelegenheit für meinen Patron. Aber ich werde wohl einige Zeit hier in Antiochia bleiben, und ich freue mich, die Geschwister wieder zu treffen, die damals Jerusalem verlassen mussten. Denn auch ich bin getauft – von Stephanus, der für den Herrn gestorben ist.“

      „Ja“, sagte Junia, „wir haben davon gehört. Es war eine schreckliche Nachricht für uns alle. Ich war damals noch ein Kind, da hatte ich kaum begriffen, was mit ihm geschehen war. Aber ich bin ihm ein oder zweimal in Jerusalem begegnet, daran erinnere ich mich noch gut. Und du hast Stephanus näher gekannt?“ Der junge Mann nickte zustimmend: „Er hat mir die Augen geöffnet für den Glauben,“ sagte er. „Aber auch ich war noch sehr jung damals und habe vieles nicht verstanden. Doch hier bei euch werde ich sicher gute Lehrer finden.“ „Bruder Lucius ist einer von ihnen,“ gab Junia zurück, um dann die Hand zu heben: „Entschuldige, Bruder... Andronikus, nicht wahr? Wir schwatzen hier miteinander, und dabei sollte ich ihm endlich deine Ankunft mitteilen.“ Sie wandte sich um und lief aus dem Raum, während der junge Mann sich auf der Kline niederließ.

      Einen Augenblick später brachte ein Sklave – oder auch ein Freigelassener – ein Tischchen mit einem Becher Wein und einer Schale mit Früchten. „Der Herr wird gleich zu dir kommen,“ sagte er. „Junia bittet dich, du mögest dich erst einmal stärken. Du wirst hungrig und durstig sein.“

      5

      Im ersten Quartier, zwischen dem Orontes und der schnurgeraden Hauptstraße, fand Andronikus in einer Insula eine erste Wohnung: ein offenes Ladengeschäft an der Gasse, das er als Büro zu nutzen gedachte, und darüber zwei Räume, in denen er eine Liege aufstellte und im anderen auch ein Tischchen und zwei Sessel. Die ersten Wochen vergingen damit, einige Geschäftsfreunde seines Patrons aufzusuchen, sich vorzustellen und über Getreidelieferungen zu verhandeln. Bald handelte er auch mit anderen Waren – Feigen und Datteln, Oliven und getrockneten Weintrauben. Sein Auftraggeber in Jerusalem konnte zufrieden sein, die Geschäfte warfen guten Gewinn ab, und eines Tages ließ er Andronikus einen Beutel mit Denaren überbringen, als Lohn und Auszeichnung für seinen Dienst. Der junge Mann aber verwahrte den Beutel gut, sein bescheidener Lebensunterhalt war auch so gesichert. Er hatte gehört, daß Barnabas, als er noch in Jerusalem weilte, einen ererbten Acker dort verkauft und das Geld den Gemeindeältesten übergeben hatte, damit sie die Witwen und Waisen versorgen konnten. Noch wusste Andronikus nicht, wofür er die Gabe seines Patrons geben sollte, aber daß sie dem Christus Jesus geweiht war, das stand für ihn fest.

      Lucius hatte im vergangenen Jahr seine Tochter verheiratet, Junias Aufgabe in seinem Hause war also fortgefallen, auch war sie ja älter als die Tochter. Er fühlte sich ein wenig als Vater für die junge Frau, hatte Johanna doch von Chusa seit langem keinerlei Nachricht erhalten. So hielt er eines abends Junia auf, als sie sich in ihre Kammer zurückziehen wollte, und bat sie, an seiner Seite Platz zu nehmen. „Du bist seit langem nun schon in einem Alter, in dem die Väter ihren Töchtern einen Ehemann suchen,“ begann er. „Ich bin nicht dein Vater, Junia, aber ich fühle mich doch für dich verantwortlich. Sag mir also ehrlich: Hast du dich für die Ehelosigkeit entschieden, wie es viele Schwestern tun, weil wir die Wiederkunft des Herrn in Kürze erwarten, oder würdest du eher heiraten wollen. Dann will ich dir gerne zur Seite stehen und für dich bei einem der Brüder bitten.“

      Junia schwieg lange. Seit ihre kleine Freundin aus dem Haus gegangen war, hatte sie über ihr eigenes Schicksal nachgedacht, ohne sich doch entschließen zu können. So blickte sie Lucius an und sagte: „Um ehrlich zu sein, Bruder Lucius, ich weiß es nicht. Nur dieses eine weiß ich: Ich will unserem Herrn mit all meinen Kräften dienen. Aber noch hat er mir keinen Fingerzeig gegeben, wie das geschehen kann.“ Wieder machte sie eine Pause, der Mann neben ihr ließ ihr die Zeit zum Nachdenken. Dann fragte sie ihn ganz direkt: „Du hast sicher schon einen der jüngeren Brüder im Auge, nicht wahr? Würdest du mir verraten, an wen du denkst?“

      Lucius mußte lächeln: „Ich würde dir niemand empfehlen, meine Liebe, es sei denn, ich wüsste, du hättest schon eine Entscheidung getroffen. Aber ich beobachte doch seit vielen Tagen, daß dort einer ist, mit dem du gerne über unseren Glauben sprichst, zu dem du Vertrauen hast.“ Und als Junia ihn fragend ansah, fuhr er fort: „Es ist Bruder Andronikus. Du schätzt ihn, nicht wahr?“ „Und er, schätzt er mich auch?“ Lucius spürte, daß die junge Frau neben ihm so etwas wie Zuneigung empfand, also sagte er geradeheraus: „Wenn du es erlaubst, dann will ich ihn fragen.“

      Junia griff nach seiner Hand: „Ich weiß nicht, ob ich zur Ehefrau und Mutter tauge, Lucius. Aber ich weiß, daß ich, so wie Bruder Barnabas und Paulus, die Botschaft unseres Herrn und Meisters weitersagen möchte. Aber kann eine Frau das alleine tun, kann sie reisen, in die Synagogen gehen, kann sie in den Häusern das Evangelium verkünden? Du wirst mit Recht sagen: Nein, das kann sie nicht. Sie wäre ständig Gefahren ausgesetzt, die Männer würden kaum auf sie hören, die Behörden würden ihr das Wort verbieten. Um das zu tun, was Paulus und Barnabas tun, was Stephanus einst getan hat, muß man ein Mann sein, oder...“ sie sah dem anderen nun geradewegs in die Augen, „..oder doch wenigstens gemeinsam mit einem Ehemann unterwegs sein. Sag, Bruder Lucius, was denkst du: Wäre Andronikus bereit, mich unter diesen Voraussetzungen zu heiraten, sich mit mir zusammen von der Gemeinde aussenden zu lassen?“

      „Es ist der Geist des Herrn, der uns ruft,“ sagte Lucius leise. „Wir wollen um seinen Geist bitten. Und wenn auch Andronikus sich gerufen weiß, dann wird der Herr uns ein Zeichen geben.“ Es sollte nicht viel Zeit vergehen, da glaubte Lucius fest, dieses Zeichen sei geschehen. Die Gemeinde hatte Besuch erhalten, drei Männer aus Jerusalem waren in Antiochia

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