Die Vergessenen. Eckhard Lange

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Die Vergessenen - Eckhard Lange

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beitrug durch sein Zeugnis, daß sie weiter wuchsen. Die Gemeinde in Jerusalem wurde jetzt vom Bruder des Herrn, Jakobus, geleitet. Er werde auch bei den Pharisäern dort geschätzt wegen seiner Frömmigkeit und weil er die vielen Gebote der Thora mit großem Eifer befolge.

      Als sich die Geschwister nun mit den Gästen am Tag nach dem Sabbat, dem ersten Wochentag nach jüdischer Zählung, zum gemeinsamen Mahl versammeln wollten, um des Herrn zu gedenken und das Brot miteinander zu brechen, erhoben die Jerusalemer plötzlich Einspruch: „Es sind viele unter euch, die unbeschnitten sind,“ sagte einer. „Wißt ihr nicht, daß es uns Juden verboten ist, gemeinsam mit ihnen zu essen?“ „Aber sie sind getauft,“ antwortete Lucius, „sind sie dann nicht unsere Brüder, so wie ihr?“ „Das wollen wir nicht bestreiten,“ sagte der Gast, „mögen sie das Mahl des Herrn feiern. Doch wer aus Israel kommt, der ist gebunden an die guten Gesetze unseres Gottes, sie zu übertreten wäre eine Sünde.“

      Da erhob sich plötzlich Junia und bat, etwas sagen zu dürfen. Die Anwesenden schauten erstaunt, selten geschah es, daß eine der Schwestern sprach während der Versammlungen. Jetzt aber, wo Entscheidendes anstand, sollte eine Frau das Wort ergreifen? Lucius aber hob die Hand, das leise Gemurmel erstarb. „Wenn unsere Schwester Junia etwas zu sagen hat, wenn der Geist des Herrn sie dazu treibt, dann wollen wir sie hören.“ Da wusste Junia, jetzt ist die Zeit gekommen, für die Wahrheit des Evangeliums zu kämpfen. So begann sie:

      „Es mag geschwisterlicher Liebe entspringen, wenn einige von uns, die sich sonst wenig an die Thora gebunden fühlen, jetzt die Speisegesetze achten wollen, um die jüdischen Brüder nicht zu betrüben. Niemals aber darf es sein, daß eine solche Vorschrift uns voneinander trennen sollte. Gilt denn das Gesetz noch, daß jemand es von den anderen einfordern könnte als notwendig zum Heil in Christus? Das kann und das darf nicht sein, denn unser Heil kommt allein aus unserem Vertrauen in die Barmherzigkeit unseres Gottes. So haben wir es vom Herrn empfangen, und so haben wir es bisher gehalten. Sind wir denn nicht alle mit der gleichen Taufe getauft, ob nun aus den Juden oder aus den Völkern? Sind wir nicht alle an den einen Tisch geladen, um das Brot und den Kelch zu empfangen als Zeichen der Gegenwart unseres Herrn? Wie könnten wir diese Gemeinschaft nun zerreißen, einen Tisch denen aus den Heiden und einen Tisch den Juden decken? Meine Freunde, so verraten wir die Liebe, die uns alle in Christus Jesus verbindet! Wie können wir diese Liebe den Ungläubigen predigen, wenn wir selber nicht in ihr und aus ihr leben! Darum bitte ich euch, und ich weiß, ich bitte das im Namen des Herrn, der auch mich berufen hat, richtet keine Schranken auf, wo sie doch Christus niedergerissen hat, macht nicht wieder die Thora zum Weg des Heils, wo doch unser Herr allein der Weg zu Gott ist.“

      Alle schwiegen, nachdenklich die einen, voller Bewunderung für diese klaren Worte aus dem Munde einer Schwester die anderen. Da erhob sich Andronikus: „Ihr Brüder und Schwestern, ich bin erst wenige Monate in eurer Gemeinde, es steht mir nicht an, euch zu belehren. Aber ich habe damals in Jerusalem die Worte des Stephanus gehört, und er hat ähnliches gesagt wie jetzt Junia. Und ich habe hier bei euch die Worte von Paulus gehört, der nun zusammen mit Barnabas, von uns geschickt mit Gebeten und unter Auflegen der Hände, in Kilikien und den angrenzenden Provinzen das Evangelium verkündet. Und predigt er nur den Juden? Nein! Wo immer die Heiden sich zum Herrn bekehren, da taufen wir sie. Verlangen wir, daß sie vorher beschnitten werden und die Vorschriften der Thora befolgen? Nein. Denn allein der Glaube an den Christus Jesus rettet uns, allein die Taufe schenkt uns den Geist des Herrn. So habe ich es gelernt hier in eurer Mitte. Darum stimme ich der Schwester Junia in all ihren Worten von ganzem Herzen zu, denn aus ihr spricht der Geist unseres Herrn. Das ist gewiß.“

      Damit trat er auf die überraschte Junia zu und umarmte sie, und viele taten es ihm daraufhin gleich, umarmten beide, Junia und auch Andronikus. Danach feierten sie alle das Mahl, das Zeichen ihrer Verbundenheit mit dem auferstandenen Herrn. Und sie taten es gemeinsam. Da wusste Lucius, was er zu tun hatte, was der Wille Gottes sei. Nach der Versammlung bat er Andronikus in sein Haus und fragte ihn gerade heraus, ob er Junia heiraten würde. Verdutzt fragte dieser zurück, so wie es Junia vor kurzem auch getan hatte: „Will sie es denn auch?“

      Lucius blieb ihm eine Antwort schuldig, er rief vielmehr einen Sklaven und befahl ihm, Junia herbeizurufen. Als sie die beiden Männer dort stehen sah, wusste sie, welche Bedeutung dieses Treffen haben würde. So wartete sie nicht mehr ab, ob Lucius etwas sagen würde, sondern wandte sich an Andronikus: „Der Herr hat mich gerufen, seine Botschaft weiterzusagen. Das weiß ich jetzt gewiß. Aber ich weiß auch, daß eine Frau das nicht allein kann. Wenn du bereit bist, Bruder Andronikus, diesen Weg mit mir gemeinsam zu gehen, dann will ich deine Frau werden.“ Leise fügte sie hinzu: „Aber wir werden wie Bruder und Schwester miteinander leben. Es ist nicht die Zeit der Vereinigung, und es wäre auch Unrecht, auf diesem Weg ein Kind zu gebären und zu ernähren. Ich will dich lieben, wie man einen Bruder liebt, und das mit ganzem Herzen. Und später, vielleicht einmal, wenn es der Herr so will, will ich dich auch anders lieben.“

      Andronikus blickte sie an, er wußte wohl, daß sie ein Opfer von ihm forderte, so wie sie es auch sich selber abverlangte. Nein, er würde sie jetzt nicht umarmen, nicht in dieser Stunde. Aber er streckte ihr beide Hände entgegen: „Ja, Junia, ich will dich achten und ehren als meine Ehefrau, und ich will dich lieben als meine Schwester im Herrn. Das gelobe ich, Gott ist mein Zeuge.“ Dann wandte er sich mit einem Lächeln an Lucius, der stumm dabeigestanden hatte: „Und Lucius ist es auch.“

      6

      Sobald der Schnee auf dem Amenosgebirge weitgehend abgeschmolzen war, rüsteten Androklus und Junia zum Aufbruch. Marcius, ein ehemaliger Sklave aus dem Hause des Lucius würde sie begleiten. Er war ein getauftes Mitglied der Christengemeinde, ein Mann, der aus Kappadokien stammte und dort in Schuldhaft gekommen war, den Lucius des gemeinsamen Glaubens wegen gekauft hatte und den er nun für diesen Dienst freigelassen hatte. Er würde vor allem beim Transport des notwendigen Gepäcks helfen, außerdem könnte er auch als Dolmetscher dienen, denn nicht in allen abgelegenen Bergregionen wurde griechisch gesprochen und verstanden.

      Andronikus hatte in mehreren Briefen Abschied genommen von seinem Geschäftspartner in Jerusalem, der ihn nur mit großem Bedauern ziehen ließ. Doch Andronikus hatte einen Bruder in der Gemeinde gefunden, der gerne bereit war, in seiner Vertretung gegen einen angemessenen Lohn die laufenden Geschäfte weiterzuführen, die Oliven- und Weizenlieferungen zu kontrollieren und weiterzuleiten. Auch wenn er keine neuen Kunden werben sollte, so wollte Andronikus seinem Gönner und Auftraggeber doch die bisherigen Einkünfte sichern.

      Die letzte Versammlung der Gemeinde kam heran, das letzte gemeinsame Mahl, um das die beiden so gestritten hatten. Nun beteten alle für die drei Reisenden, die Lehrer und Ältesten legten ihnen die Hände auf, damit sie mit dem Segen des Herrn loswandern könnten. Am nächsten Morgen begleiteten sie dann noch viele aus der Gemeinde aus der Stadt hinaus und über den Orontes, ehe man sie endgültig ziehen ließ. Von nun an waren die drei ganz auf sich selbst gestellt. Sie hatten sich zunächst einer Handelskarawane angeschlossen, die am Fuße des Amenosgebirges nach Norden zog mit der Absicht, ins syrische Nikopolis zu gelangen. Androklus und Junia hatten sich für eine Reise in Richtung Kappadokien entschieden, da Barnabas und Paulus nach Kilikien und Pamphylien aufgebrochen waren. Ein festes Ziel gab es nicht, Junia vertraute auf den Geist des Herrn, der ihnen den Weg weisen würde.

      Noch zog sich die Straße durch die Ebene dahin, von weitläufigen Olivenhainen gesäumt, dazwischen frisch bestellte Weizenfelder und Gruppen von Dattelpalmen. Das meiste Land gehörte hier Großgrundbesitzern, deren Landhäuser abseits von der Straße im Schatten der Palmen lagen. Nachts rasteten sie in den Karawanenherbergen, die in den Dörfern zu finden waren. Das stundenlange Wandern war allen drei ungewohnt, und auch wenn vor allem Junia die Füße schmerzten, so hielt sie doch Schritt mit den Männern und den Maultieren der Karawane, die das Tempo vorgaben. Noch war die Luft mild, die Nächte eher kühl, der Frühling ließ sich Zeit. Für die Reisenden war dieses Wetter von Vorteil, und die Bäche, die den geschmolzenen Schnee von den Berghängen

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