Die Vergessenen. Eckhard Lange

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Die Vergessenen - Eckhard Lange

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erholen, denn der weitere Weg würde sie hinauf in die Berge führen. Nikopolis hatte weder eine jüdische noch eine christliche Gemeinde, also nahmen sie in einer Herberge Zuflucht. Marcius, ihr Begleiter und Freund, erkundete inzwischen, welche Händler in der Stadt waren und welchen Weg sie nehmen würden. Es war ihnen klar, daß sie keinesfalls alleine aufbrechen könnten, zu unwegsam war das Gelände, zu gefährlich wäre es auch, ohne den Schutz einer größeren Gruppe zu reisen. Am vierten Tag kam Marcius mit einer guten Nachricht in die Herberge zurück: Eine große Karawane mit mehreren Kaufleuten und ihrer Begleitung würde in Kürze nach Melitene aufbrechen, das die Römer Melatia nannten. Die Stadt lag ganz im Osten der Provinz Kappadokien, nahe der Grenze des Imperiums und war nicht nur Sitz einer römischen Besatzung, sondern auch ein wichtiger Handelsstützpunkt. Dort hofften sie zugleich eine jüdische Gemeinde zu finden als Ausgangspunkt für die Verkündigung der Botschaft. „Es ist der Geist des Herrn, der uns führt,“ sagte Junia mit Nachdruck. „Wir sollten uns der Karawane anschließen.“ Und die beiden Männer stimmten zu.

      Doch der Weg dorthin sollte für sie alle beschwerlich werden, denn bald führte er sie ins Gebirge hinauf, wo die letzten Schneefelder zwischen steilen Felswänden und weiten Geröllhalden in der Sonne glänzten, so daß die Augen zu schmerzen begannen. Die Kleider verfingen sich in dem zwar niedrigen, aber oft dichten Gestrüpp, und bald blies ihnen auch ein eisig kalter Wind ins Gesicht, während die Füße mühsam nach einem festen Halt auf dem Pfad suchten. Allein die Maulesel schritten gleichmütig voran, trotz der schweren Lasten, die man ihnen aufgeladen hatte. Marcius sorgte dafür, daß nun auch das Gepäck der drei einem der Tiere aufgepackt wurde, und Andronikus zahlte bereitwillig dafür, daß ihre Füße nur noch sie selbst zu tragen hatten.

      Nicht immer fand sich eine Herberge an diesem Weg, oft mussten sie unter dem Sternenhimmel nächtigen, fest eingehüllt in den Kapuzenmantel, den sie nun über dem Obergewand trugen. Als sie am fünften Tag gerade noch rechtzeitig vor dem Einbruch der Nacht in einer kleinen Karawanserei einkehren konnten, war Andronikus froh, wenigsten eine kleine Kammer mit einer Liege mieten zu können. Junia war todmüde von den Anstrengungen des Tages, erschöpft sank sie auf die Liege, und Andronikus legte sich vorsichtig neben seine Frau. Sie hatte sich im Schlaf zur Seite gedreht, er spürte ihren warmen Körper neben dem seinen, ihr Kopf war an seine Schulter gelehnt. Ganz still lag er da, um sie nicht zu wecken. Noch nie war sie ihm so nahe gewesen, noch nie hatte er so stark die Zuneigung gespürt, die er für Junia empfand. Sie war seine Frau und war doch nur seine Schwester im Herrn. Niemals würde er sie berühren, wie er es gelobt hatte, solange sie ihn nicht selbst von diesem Versprechen lösen würde. Aber sie lieben und beschützen, ob nun als Weib oder als Schwester, das würde er, und Gott würde ihm beistehen.

      Am nächsten Morgen trat Marcius auf die beiden zu: „Ich habe mit den Sklaven hier gesprochen. Sie alle sagen, daß die kommende Wegstrecke über den Kamm des Gebirges führt, daß der Pfad oft nur sehr schmal ist und an Abgründen entlang führt. Es wird also eine beschwerliche und auch gefährliche Wanderung sein. Das sagt auch der Wirt, und er hat mir angeboten, uns für dich, Schwester Junia, ein Maultier mit einem erfahrenen Führer für diesen Tag zu vermieten. Er könnte dann morgen zurückkehren, wenn wir die Höhe überwunden haben. Ich weiß, liebe Junia, es widerstrebt dir, besondere Rechte in Anspruch zu nehmen, aber ich bitte dich, dieses Angebot nicht auszuschlagen.“

      Junia zögerte, er hatte recht: Sie wollte sich nicht von den anderen unterscheiden. Aber sie wusste auch, daß ihr ein schmaler Weg entlang von steil abfallenden Felswänden Schwindel bereiten würde. Durfte sie sich allein aus Stolz in Gefahr bringen? Sie blickte Androklus fragend an. „Du solltest das Angebot annehmen, Junia,“ sagte dieser, und als hätte er ihre Gedanken erraten, fügte er leise hinzu: „Wir sollten den Herrn nicht versuchen.“ Da willigte sie ein, und Marcius eilte fort, um die Angelegenheit mit dem Wirt zu regeln. „Aber ich werde erst aufsteigen, wenn die Vernunft es verlangt,“ sagte sie mit fester Stimme. „Solange mag das Tier all das tragen, was uns jetzt noch belastet.“

      Nach etwa zwei Stunden hatten sie die Höhe des Gebirges erreicht, und nun sahen alle drei, daß die Warnungen berechtigt waren. Selbst die Tiere gingen jetzt langsam und achtsam, setzten die Hufe vorsichtig auf und drängten sich an die Felswand, wenn der Pfad schmal wurde und seitlich die Tiefe gähnte. Junia ritt nun auf ihrem Maultier, manchmal klammerte sie sich an dessen Mähne fest, vor allem aber vermied sie es, in den Abgrund zu blicken. Aber das Reittier war diesen Weg gewöhnt, und der Führer ging mit festem Schritt voraus. Dennoch sandte Junia ein stilles Dankgebet zum Himmel, als der Weg sich wieder weitete und eine Senke zwischen zwei Höhen durchquerte. Der Führer wandte sich um und lachte freundlich: „Wir haben den Paß erreicht, jetzt geht es bequemer abwärts.“

      Junia schaute nach Androklus. Er war die ganze Zeit dicht hinter ihr gewesen, sie hatte seinen schwer gehenden Atem gehört. Und sie erblickte auch die Schweißtropfen, die von seiner Stirn herabperlten. Aber er lächelte ihr zu, und sie lächelte zurück. Der schlimmste Teil des Weges lag jetzt offensichtlich hinter ihnen. Schon wollte sie absteigen und das Tier mit seinem Führer zurückschicken, doch Marcius mahnte: „Schone deine Kräfte, Junia, es wird noch Tage dauern, bis wir Melitene erreichen. Du kannst deine Füße noch genug gebrauchen.“ Und er sollte recht behalten. Nun quälten sie nicht so sehr die Gefahren des Weges, sondern die Sonne, die immer mehr Kraft gewann, ohne daß Felswände oder gar Bäume Schatten spendeten.

      7

      Junia blieb überrascht stehen, fast hätte sie einen kleinen Schrei ausgestoßen: Zu ihren Füßen erstreckte sich ein weites Feld, übersäht mit weißen Margeriten. Nun lag das Gebirge endgültig hinter ihnen, und vor ihnen die Ebene von Melitene. „Schaut nur,“ sagte sie bewegt zu ihren beiden Begleitern, „der Herr hat uns einen kostbaren Teppich zum Empfang ausgebreitet. Ist er nicht wunderschön? Laßt ihn uns zum Zeichen nehmen, daß wir und unsere Botschaft hier willkommen sind.“ Androklus war hinter sie getreten und hatte ihr die Rechte auf die Schulter gelegt: „Ja, Junia, es ist ein prächtigen Anblick, nach all den Felsen und dem Schnee dort oben vom Frühling begrüßt zu werden. Wie wird es erst sein, wenn unser Herr wiederkommt und diese Welt verwandelt in den Garten Gottes, den wir einst verloren haben!“

      Auch die Händler und ihre Maultiertreiber und Diener waren stehengeblieben. Wie oft waren sie diesen Weg schon gezogen, doch stets war dies ein besonderer Augenblick auf ihren Reisen. Dann aber hieß es, sich zu beeilen, um noch vor Sonnenuntergang die Stadt zu erreichen. Auch die drei Antiochener nahmen zunächst einmal Quartier in der Herberge, und Marcius erkundete dort, ob und wo es eine Synagoge oder eine Versammlungsstätte von Juden in der Stadt gäbe. Bald kam er mit der Auskunft zurück, Miletene hätte eine durchaus zahlreiche Judenschaft mit einer eigenen Synagoge. Es seien überwiegend griechisch sprechende Männer, meist Handwerker im Basar und durchaus auch angesehen unter den anderen Bewohnern. Sonst gäbe es die üblichen Tempel; vor allem die Soldaten aus dem Legionslager würden den Jupiter Dolichenus verehren, der aber eigentlich der syrische Baal wäre.

      In zwei Tagen würde der Sabbat sein, so beschlossen die drei, dann die jüdische Feier aufzusuchen. Auch Barnabas und Paulus hätten auf diese Weise ihre Mission begonnen. Während Androklus und Marcius sich in den Versammlungssaal begaben, stieg Junia die Treppe zur Frauenempore hinauf. Kein Vorhang trennte diesen Raum vom Saal dort unten, alle hatten freie Sicht auf das Geschehen vor dem Thoraschrein. Junia war erstaunt über die große Zahl der Frauen, ein paar vorsichtige Fragen ergaben, daß viele von ihnen zu den Legionären gehörten. Den Soldaten war zwar die Heirat während ihrer Dienstzeit untersagt, doch die meisten hatten durchaus Frauen und auch Kinder, und da Teile der Legion nun schon vor einigen Jahren aus Syrien hierher verlegt waren, lebten auch die Familien in der Nähe des Castrums. Und es waren oft jüdische Frauen, oder doch solche, die dem jüdischen Glauben nahestanden, die es nach Miletene verschlagen hatte.

      Wie es in den meisten Gemeinden Sitte war, wurde es Gästen eingeräumt, eine der Lesungen zu übernehmen und dazu auch etwas zu sagen. So hatte Androklus Gelegenheit, sich vorzustellen. Dabei betonte er seine Herkunft aus

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