Johann Hinrich Wichern - Herold der Barmherzigkeit. Jürgen Ruszkowski
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Es war eine schicksalhafte Begegnung, als die beiden Männer sich zum ersten Mal die Hand reichten. Der ältere von beiden, Karl Sieveking, gehörte einer alten Hamburger Patrizierfamilie an und war der Vetter von Amalie Sieveking, die, als 1831 in Hamburg die Cholera ausbrach, freiwillig in den Armenhäusern als Krankenpflegerin gearbeitet hatte und als Mitbegründerin der organisierten Diakonie in Deutschland gilt.
Schon in jungen Jahren war Karl Sieveking Gesandter in Brasilien gewesen, hatte seine Vaterstadt beim Frankfurter Bundestag vertreten und diente ihr nun als Senatssyndikus. Sein jüngerer Bruder war Friedrich Sieveking, ein von den Hamburgern hoch verehrter Bürgermeister. Auch der hoch gebildete und feinsinnige Syndikus war „einer von denen, die mit Jesus waren“. Das verband beide Männer schnell und begründete eine Freundschaft, die durch 15 Jahre bis zum Tode des Syndikus beide tief beglückte.
Es bedurfte nicht vieler Worte, um Sieveking für den jungen Theologen und für seinen Plan zu gewinnen. Hier – das spürte er bald – konnte das in Vollmacht vollendet werden, was sein Schwiegervater de Chapeaurouge als Pestalozziverehrer für Hamburg gewollt und ersehnt hatte.
Aber Wichern begnügte sich nicht damit, die führenden Kreise seiner Vaterstadt für den Plan zu gewinnen, der vor seiner Seele stand. Mit einigen seiner Freunde gründete er den „Bergedorfer Boten“, eine Zeitung, die laufend auf die Notwendigkeit eines Rettungshauses hinweisen und dem Werk Freunde gewinnen sollte. Schon, als die erste Nummer im Januar 1833 erschienen war, liefen die ersten Spenden ein. Eine mütterliche Freundin Wicherns schenkte 100 Mark. Christlich gesinnte Hausmädchen hatten sich zusammengetan, ihr Scherflein beizutragen. Ein Schumachergeselle brachte dem jungen Kandidaten seinen ganzen Spartopf mit Silber und Gold, seine lange gesammelten Sparpfennige, für das zu gründende Liebeswerk. Und ähnliche Gaben folgten als Zeichen dafür, dass vieler Fürbitte und Hilfe mit ihnen ging.
Am 4. Februar war Wichern wieder bei dem Syndikus Sieveking, um den gemeinsamen Plan mit ihm zu besprechen. Im Verlauf des Gespräches holte der Syndikus eine Mappe mit Karten, auf der die Sievekingschen Ländereien eingezeichnet waren, darunter auch ein Acker Landes an der Wandsbeker Heerstraße, wo eine Windmühle die Aussicht nach allen Himmelsgegenden beherrschte. Diesen Acker wollte er als Grundstück für den Rettungshausplan zur Verfügung stellen. In höchster Freude eilte Wichern nach Hamburg zurück, rief trotz der späten Abendstunde seine Freunde zusammen und überlegte mit ihnen, wie diese Gabe aufs zweckmäßigste genutzt werden könnte.
Aber je mehr und je öfter sich die Freunde mit dem Plan befassten, umso mehr schienen ihre Hoffnungen dahin zu schmelzen. „Wie manche Stunde habe ich damals auf dem öden Felde zugebracht, es war aber alles wüst und leer. In wunderbar schönem Grunde senkte sich die Sonne so oft über Hamburg hier herunter und regte immer wieder meine Hoffnung an, die aber immer von neuem unerfüllt blieb.“ Alle Versuche, der der Nähe des Geländes ein Haus zu finden, das man mieten könne, schlugen fehl. Dazu kam plötzlich die Botschaft, dass die Verwandten des Erblassers die Gültigkeit des Testaments angegriffen hätten und dass für das Rettungshaus wahrscheinlich nichts oder nur sehr wenig übrigbleiben werde.
Einige glückliche Umstände bringen dann doch eine schnelle Verwirklichung des Plans. Der junge Wichern dringt darauf, dass die nächste Jahresversammlung des Sonntagsschulvereins am 25. Februar 1833 in aller Öffentlichkeit abgehalten werden soll. Im großen Tanzsaal des Schneideramtshauses in der Filterstraße strömen tatsächlich über 1.000 Personen zusammen. Es wird die erste große Gemeindeveranstaltung in der Geschichte der Hamburger Kirche überhaupt. Wichern hält den Hauptvortrag. Zum ersten Mal redet er vor einer großen Versammlung; zum ersten Mal erlebt eine Hörerschaft die bezwingende Kraft seiner Rede. Hier tritt der junge Wichern erstmalig als Mahner von prophetischer Eindringlichkeit auf, wie später so oft in seinem Leben, und ruft die Hamburger Bürgerschaft zur erbarmenden Hilfe für die von der bürgerlichen Gesellschaft im Stich gelassenen Proletarierfamilien auf. Viele Hamburger erfahren damals erst durch Wichern etwas von der unheimlichen Nachtseite ihrer stolzen und reichen Stadt. Noch über hundert Jahre später spürt man sie aus der Niederschrift. Er nimmt seine Hörer mit auf einen Gang durch die Hamburger Altstadt: „In einem Zimmer des alten Hauses wohnt ein wilder Mensch, ein Wall- oder Chausseearbeiter, ein entsetzlicher Trunkenbold; eine Kinderbettstelle, ein wenig anderes zerbrochenes Mobiliar und ekelhafter Schmutz füllen diese Behausung. Bis zum letzten Frühjahr hatte dieser Mensch einen Neffen bei sich, der seinen Vater und seine Mutter nie gesehen hat; derselbe ist 18 Jahre alt, sammelte bis vorigen Winter am Tage die Lumpen, aus denen er des Nachts Kopfkissen bereitete; Wäsche hatte er im letzten Winter nicht auf dem Leibe.“ Und Wichern schließt: „Wie? Sollten wir vergeblich harren? Sollte Hamburg, welches selbst Fremde nie vergeblich nach Hilfe rufen lässt nun den Schrei nicht vernehmen, den die unglücklichsten aller Kinder in den eigenen Mauern schreien? Gewiss, wer jemals ein armes kleines Kind gesehen, wie jenes eins war, das zu mir auf offener Straße herzulief und mit ausgestreckten Händen und bittenden Blicken weinend zu mir hinauf sich wand und – warum sollte ich es nicht erzählen? – mich küssen wollte und rief: ‚Komm mit! Komm mit! und siehe, wie es mir geht!’ – wer solch ein Kind jemals gesehen, der würde die Angst in den Seelen dieser Kinder begreifen und könnte dem heiligen Triebe zu retten nicht widerstehen. Im Geiste steht ein solches Kind mir hier zur Seite und sieht die Menge der Versammelten flehend an – wer wollte nicht helfen, Hütten der schützenden, der Leben bringenden Liebe zu bauen?“
Noch im spätem Alter sagte Wichern im Hinblick auf diese Versammlung: „Nur zweimal in meinem Leben habe ich das sichere, mich übermannende Bewusstsein davon gehabt, dass Gott mir im außerordentlichen Maße die volle Kraft des Wortes verlieh: das erste Mal bei jener Sonntagsschulfeier im Hamburger Schneideramtshause, das zweite Mal bei meiner Rede über die Innere Mission auf dem ersten Wittenberger Kirchentag“ (1848).
Zur Gründung eines Rettungshauses
Wicherns Gedanken zur Gründung eines Rettungshauses
1949 ausgewählt und zusammengestellt von Ruth Färber
Heliand-Verlag Alfred Winter KG, Lüneburg
Wichern schreibt dazu:
Es Wissen leicht alle Hausgenossen, wie groß der Verfall des kirchlichen und christlichen Lebens überall und auch unter uns geworden ist. Ursachen davon sind nicht die Einwanderung reicher oder armer Flüchtlinge in unserer Stadt; ebenso wenig haben diesen Verfall verschuldet die schweren. Kriegszeiten, welche mit den Jahren 1813 und 1815 ein Ende nahmen, auch nicht die Sünden und Schanden, die mit diesen Kriegen, das Übel vermehrend, über einen großen Teil unserer Bevölkerung hereingebrochen sind. Die Ursache des Verfalls liegt tiefer; der Überdruss an Gottes Wort hatte reich und arm erfüllt, der Glaube war gewichen, und der Übermut des menschlichen Herzens meinte, wie allerwärts so auch unter uns, seiner nicht mehr zu bedürfen. So versiegte die lebendige Quelle, aus der die wahren Güter des Lebens geschöpft werden können, wie überall, so auch in unserer Mitte; die aufschießende Eitelkeit ließ den nüchternen Bürgersmann die Grenze seines Vermögens überschreiten; die Lust an der Welt und an den Dingen des Fleisches verdrängte die genugsam reiche, heilige