Johann Hinrich Wichern - Herold der Barmherzigkeit. Jürgen Ruszkowski
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Der in Schlesien beheimatete Baron Hans Ernst von Kottwitz, damals schon 73 Jahre alt, lebte seit 1807 in Berlin. Besonders in der theologischen Jugend war sein Einfluss groß. In einer Zeit, in der es noch keine Sozialversicherung des Staates und noch keine Erwerbslosenunterstützung gab, gründete er in Berlin seine „Freiwillige Beschäftigungsanstalt“. Hunderte von erwerbs- und brotlosen Arbeitern sammelte er in einer Kaserne, gab ihnen Unterkunft, Beschäftigung und Brot und lebte mit ihnen zusammen. Wie August Hermann Francke, hatte auch er nicht nur ein gläubiges Herz, sondern auch einen klaren Blick für die Nöte der Zeit und für ihre Bekämpfung. Es ist nicht verwunderlich, dass Wichern sich diesem Mann sofort anschloss. Als er ihm zum ersten Mal begegnete, der 23jährige dem 73jährigem, schreibt er in sein Tagebuch: „Mein Geburtstag ist heute recht geistiger Art und geistlich gefördert. Am Morgen besuchte ich den lieben Geheimen Finanzrat Semler, dessen Freundlichkeit mir wie immer so wohl tut; am Nachmittag wurde mir aber Großes zuteil durch den Besuch bei dem Vater Kotwitz. Er ist wie ein johanneischer Evangelist in seinem reichen, mit himmlischer Gnade und Freundlichkeit geschmückten Alter. O, du unvergleichlicher Mann, so demütig, dass du mich beschämst mit jedem Wort, so reich im Himmel, so voll Freude, deren heilige Schauer man dich durchbeben sieht. Mein Heiland, ach, lass mich auch so werden, so ergeben und Dir geweiht.“ Diese Tagebuchaufzeichnungen schließen mit den Worten: „Eins habe ich in dieser Zeit gelernt, dass das Leben schwer ist, ehe es leicht wird. Hilf mit, o Heiland!“
Goethe sagt in Wilhelm Meisters Wanderjahren: „Große Gedanken und ein reines Herz, das ist’s, was wir uns von Gott erbitten sollten.“ Vielleicht darf man für eines Menschen Wanderjahre dies Wort auch umwandeln und sagen: Große Vorbilder und ein reines Herz, das ist es, was wir uns von Gott erbitten sollten. Jedenfalls kann man es Wicherns Lebenswerk ablesen, was große Vorbilder einem reinen Herzen abgezwungen haben.
Also, nicht nur das theologische Denken oder die wissenschaftliche Arbeit sind Wicherns Feld in Berlin. Alles in ihm drängt zum Tun.
So eifrig er auch studiert, so fleißig und klug er auch ist, eines bezeugt und beweist er von den ersten Studienjahren an: Nicht allein auf das Wissen und nicht zuerst auf die Lehre kommt es an, sondern auf das Leben aus dem Glauben; es geht um das Tun, das aus brennendem Herzen bricht, es geht um die rettende Tat der Liebe. Mit Recht hat Theodor Heuß von Wichern gesagt: „Er hatte keine Zeit, ein großer Theologe zu werden, da es ihm eilte, ein guter Christ zu sein.“
In Berlin begegnet er auch dem jüdischen, später katholischen Arzt Nikolaus Heinrich Julius, der eine Arbeit über die Reformen im Gefängniswesen verfasst hatte. Unter den berühmten Predigern Berlins beeindruckte ihn vor allem Johannes Evangelista Goßner wegen der Entschiedenheit seiner Verkündigung.
Am Ende seiner Lehr- und Wanderjahre schreibt der junge Student in sein Tagebuch: „Bald soll ich heimkehren in die Heimat, zum Wirken und Werken berufen. Was soll mir bleiben aus all dem Reichtum und dem Gebiet des im Geist Erlebten, Gedachten, Empfundenen und Erfahrenen? Nenne ich es Sinn, Wesen, Heiliges, Leben, Liebe, was mir geworden ist? Liebe ist sein einziger Name, und wer wahrhafte Liebe gefunden hat, weiß auch, wann sie kommt. Ich meine aber Liebe aus Gott, die frei ist in ihm und uns frei macht durch sich selber. Darum ist es Aufgabe und Pflicht, sich dienstbar zu machen, was und soviel es zu unserem Dienst verordnet ist, nur dass wir uns nicht dienen lassen, ohne Diener zu sein, nicht Gehorsam fordern, ohne selbst Gehorsam zu leisten. Denn wer nicht Diener Gottes ist und sein Schüler sein Lebelang, wird nicht leben im Leben“.
Am 2. September 1831 kehrt der junge Wichern in seine Vaterstadt zurück. Er macht 1832 in Hamburg sein Examen als Kandidat der Theologie. Das bleibt sein geistlicher Rang bis zu seiner Berufung in den Preußischen Oberkirchenrat. Im Stil der Zeit, in der Kandidaten der Theologie lange auf ein Pfarramt warten mussten, wenn sie überhaupt eines bekamen, wendet sich Wichern der Erziehertätigkeit zu.
Oberlehrer an der Sonntagsschule in St. Georg – Besuchsverein
Er wird am 24. Juni 1832 Oberlehrer an der von Oncken und Rautenberg initiierten Sonntagsschule in der Evangelischen Vorstadt-Kirchengemeinde St. Georg (sieh oben!) für verwahrloste Proletarierkinder, die ohne Erziehung und Unterricht, ohne elterliche Betreuung und Liebe auf den Plätzen und Straßen der großen Hafenstadt herumstrolchten.
Die öffentlichen Schulen Hamburgs standen nur der Jugend aus den bürgerlichen und wohlhabenden Kreisen offen; um die unübersehbare Schar der vernachlässigten Arbeiterkinder kümmerte sich niemand. Diese Sonntagsschule, die nach englischem Vorbild Kinder aus den Armenvierteln und Elendsquartieren an einem Tage in der Woche sammelte und betreute, war eine epochemachende, soziale Tat. In einem der ersten Jahresberichte Rautenbergs heißt es: „Eltern, welche mit der stumpfen Unempfindlichkeit ihre Kinder ohne allen Unterricht den Grenzen der Kindheit rasch hatten entgegenwachsen sehen, schlugen in sich und brachten sie zu uns her. Vernachlässigte, herangewachsene Kinder wurden ohne alle elterliche Anfassung über ihren Zustand unruhig und von innen gedrängt, nach Unterweisung zu fragen. Solche Weckung musste mit desto größerer Freude von uns wahrgenommen werden, und desto stärkere Hoffnungen bei uns entzünden, da sie keineswegs die Frucht einer Sonntagsschulmission, sondern einer freien Erscheinung war, welche die ins Leben tretende neue Anstalt ungezwungen begleitete.“
Hier war nun der rechte Platz für den jungen Kandidaten Wichern, seine brennende Sorge und Liebe einzusetzen für die bedrohten, verlassenen und gefährdeten Kinder seiner Vaterstadt, und das Amt eines Oberlehrers an dieser Schule zu übernehmen. Die Anstalt wuchs unter Wicherns Mitarbeit, ja Führung zu neuer Blüte; er gab ihr das Gesicht einer Musterschule, nach der alle späteren Sonntagsschulen sich im Blick auf Lehrplan, Klassen- und Familieneinteilung, Helferstab und Verbindung mit den Eltern ausrichteten. Vor allem trat Wichern auch dem Besuchsverein bei, den Rautenberg aus den Helfern der Sonntagsschule gebildet hatte mit dem Auftrag, die Elternhäuser der Sonntagsschulkinder regelmäßig zu besuchen, und mit den Vätern und Müttern, die oft in bitterem Elend, oft auch selbst in hoffnungsloser Verwahrlosung lebten, Kontakt zu suchen.
„Was hält uns, dass wir nicht zutreten und anfassen? Was hindert uns, hinzugehen in die Hütten des Unheils, den Jammer mit eigenen Augen zu sehen, und die armen Leute zu bitten und zu vermahnen, dass sie sich selbst, dass sie mindestens doch ihre unglücklichen Kinder retten lassen aus den Stricken des Todes“
Immer wieder hatte Rautenberg die Jahresversammlung des Sonntagsschulvereins wahrgenommen, um in der ihm eigenen Anschaulichkeit der Sprache die Not und Ausmaße der Verwahrlosung zu schildern. „Bibel, Kirche, Abendmahl, Sonntag, Gebet, Schule, Kinderzucht – ja, wer kann an dergleichen noch denken, wenn man abends nicht weiß, womit man morgens den Hunger stillen soll, den man sich schläft – Das ganze sittliche Leben der Leute schlägt sich nun nieder in die Leidenschaft des Magens, und ihr ganzer Himmel schrumpft zusammen in eine Semmel… Alle höhern geselligen Bande haben sie zerrissen oder fahren lassen. Für sie gibt’s keinerlei Ordnung mehr, nur Auflösung, Anarchie und Verwirrung… Vom Greise bis zum Kinde, das am Boden kriecht, geht jedes seinen eigenen Weg nach des bösen Herzens ‚Lust, – nur eine gemeinsame Aufgabe haben sie noch, nämlich so viel an jedem ist, Brot oder Geld herbeizuschaffen, und so viel Liebe noch, dass eins dem andern von seinem Vorrat abgibt, – und das Gegebene mit Flüchen würzt! Genug, sie führen ein Leben, wie die Raben auf unsern Türmen, die wir morgens auf den Raub hinausziehen