Johann Hinrich Wichern - Herold der Barmherzigkeit. Jürgen Ruszkowski
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Aber soweit auch die Theologie auf die Strömungen der Zeit eingeht, die kirchliche Organisation bleibt stehen. Die im Zeitalter der Reformation mehr aus Verlegenheit entstandene Koppelung von Thron und Altar im Landesherrlichen Summepiskopat konnte dem neuen Geist im Staatsdenken nicht mehr gerecht werden, wurde aber umso verbissener verteidigt. Erstaunlicherweise hatten die Konservativen für das Unzeitgemäße der kirchlichen Organisation ein besseres Gespür als die Freisinnig-Fortschrittlichen. Dass die Innere Mission sich organisatorisch neben der verfassten Staatskirche konstituierte, ist ein Ergebnis dieser im Wesentlichen erst mit der Revolution von 1918 gelösten Problematik der kircheneigenen Organisation.
Mehr als einige Aspekte dieses bewegten und bewegenden Jahrhunderts, das erst in seinem letzten Drittel, das aber nicht mehr die Zeit Wicherns ist, wieder etwas zur Ruhe kommt, kann ich nicht aufzeigen, aber auf diesem Hintergrund muss man Wicherns Leben sehen.
Wicherns Leben und Werk
Peter Meinhold, * 1907, † 1981, war von 1936 bis 1975 Theologe und Professor für Kirchengeschichte an der Christian-Albrechts-Universität in Kiel. Ende der 1950er Jahre forschte er zusammen mit seinem Assistenten Manske (†) im Archiv des Rauhen Hause und veröffentliche 1958 eine mehrbändige Gesamtausgabe aller Schriften Wicherns. Er urteilt über Wichern:
Johann Hinrich Wichern ist bekanntlich der ‚Herold’ der Inneren Mission, d. h. ihr eigentlicher Anreger und Organisator für das kirchliche Handeln in den verschiedensten Bereichen des sozialen Lebens. In seinem umfangreichen Lebenswerk hat er der evangelischen Christenheit zahlreiche neue Antriebe vermittelt und die Motivationen für ein neues Handeln der Kirche niedergelegt. Wichern hat als erster erkannt, dass die Gesellschaft der Neuzeit eine Massengesellschaft ist, in der nur das korporative Handeln der Kirche soziale Auswirkungen hat. Die von ihm ins Leben gerufene ‚Innere Mission’ sollte eine gesellschaftliche Erneuerung in allen Schichten der Bevölkerung herbeiführen und ein korporatives Wirken angesichts der bedrängenden Nöte der Zeit bewirken, damit aber auch zu einer Einlösung des Glaubens durch die Werke der Liebe werden. Schon der junge Wichern hat für die Abhilfe der ihn bedrängenden Nöte der Zeit durch die praktische Tat gesorgt. So ist er durch die Begründung des Rauhen Hauses der äußeren und inneren Verwahrlosung der Jugend entgegentreten. In den Gehilfen des Rauhen Hauses ist dabei eine Brüderschaft herangewachsen, die er in die vielfältigen diakonischen Dienste, wie sie die Zeit erforderte, eingeführt hat. Zu den bleibenden Werken Wicherns gehört die Gefängnisreform, die eine Umstellung des Strafvollzuges von der Massenhaft auf die Einzelhaft gebracht hat. Sie führte auch zu einer Erneuerung des Gefängnispersonals, für das Wichern Kräfte aus der Brüderschaft des Rauhen Hauses und des Evangelischen Johannesstifts in Berlin genommen hat, die in menschlicher und fachlicher Hinsicht auf diesen Dienst vorbereitet waren. Das letzte Ziel der Gefängnisreform war die Resozialisierung der Gefangenen und ihre Wiedereingliederung in die Gesellschaft. Damit verfolgte er das gleiche Ziel wie in der Erziehung und gesellschaftlichen Reintegration der Jugend, für die er im Rauhen Hause das erste Modell der nach dem Familienprinzip aufgebauten Heimerziehung geschaffen hat. So ist Wichern der große Sozialreformer und Sozialpädagoge aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, den die evangelische Kirche hervorgebracht hat. Viele moderne Gedanken über die Erziehung, über Arbeit, Verdienst, Freizeit, Entlohnung, soziale Sicherung und Altersversorgung hat Wichern zuerst gedacht und sie in seinen zahlreichen Schriften begründet und immer weiter ausgebaut.
Peter Meinholds Gesamtausgabe ist ein kirchengeschichtliches Ereignis, weil sie nicht nur Person und Werk Wicherns in einem neuen Lichte sehen lässt, sondern auch deutlich macht, wie wenig die Kirche des 19. Jahrhunderts den geistigen Anregungen Wicherns zu folgen vermochte und wie groß die späteren Generationen hinterlassene Aufgabe ist, dieses Werk mit seinen sozialethischen, aus dem Glauben kommenden Begründungen in ihre Zeit zu übertragen und umzusetzen.
Der junge Wichern
Nachfolgende Formulierungen stammen teilweise von Dr. theol. Reinhard Freese, Manfred Schick, aber auch aus anderen Quellen, etwa von Erich Beyreuther, Dr. Hans Luckey, 1949 von Ruth Färber ausgewählte und zusammengestellte Texte, aus der Verteilschrift ‚Der Rauhhäusler Bote’ 1954 oder Wikipedia.
„Ich bin in Hamburg 1808 den 21. April geboren, von guten und liebevollen Eltern, die mich hegten und pflegten, so lange sie konnten; durch die Taufe ließen mich meine Eltern in Gottes Verzeichnis der Christen (da heißt der mit dem heiligen Geist gesalbten) einschreiben Dafür sei Ihnen Dank hier und dort ewig.“ – so lesen wir es im Tagebuch des 18jährigen Johann Hinrich.
Wicherns Vaer
Wicherns Mutter
Johann Hinrich Wichern wurde also am 21. April 1808 als ältestes von acht Kindern des gleichnamigen Vaters Johann Hinrich Wichern geboren und am 15. Mai 1808 auf dessen Namen getauft.
Wichern stammt aus einer Aufsteigerfamilie. Der Großvater väterlicherseits, Nachkomme armer hannoverscher Leineweber, 1770 in die Stadt gekommen, ist noch ungelernter Arbeiter; der Vater arbeitet sich vom Mietkutscher und Schreiber zum kaiserlichen Notar (dazu bedurfte es damals in Hamburg noch keines akademischen Studiums) und durch eisernes autodidaktisches Sprachen-Studium, er beherrschte schließlich zehn Sprachen, zum vereidigten Übersetzer hoch.
Taufregister von St. Michaelis
Doch die Wirren der Napoleonischen Kriege und die Kontinentalsperre vereiteln einen finanziellen Lebenserfolg. Die Mutter, Caroline Maria Elisabeth geb. Wittstock, eine Hamburgerin, stammte mütterlicherseits aus einem verarmten holländischen Adelsgeschlecht und wird als energisch, praktisch und fromm beschrieben. Sie hatte von Jugend auf schwer arbeiten müssen; noch im hohen Alter hat sie im Rauhen Haus Gemüse geputzt und Kartoffeln geschält.
Wichern besucht eine Privatschule, in der nach der Pädagogik Pestalozzis unterrichtet wird. 1818 wechselt er auf das Johanneum, ein bereits lang bestehendes Gymnasium, das im 16. Jahrhundert von Johannes Bugenhagen, dem Mitstreiter Martin Luthers und Reformator Norddeutschlands, gegründet worden war. Der älteste Sohn, Johann Hinrich, soll studieren. Es ist darum ein furchtbarer Schlag, als der Vater, der sangesfrohe, bildungsbegeisterte, der Romantik zugetane,