Johann Hinrich Wichern - Herold der Barmherzigkeit. Jürgen Ruszkowski

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Johann Hinrich Wichern - Herold der Barmherzigkeit - Jürgen Ruszkowski gelbe Reihe bei Jürgen Ruszkowski

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macht den Armen zum Proletarier. Wichern war sich auch bewusst, dass die soziale und seelische Not ein Massenproblem war, dem sich die Kirche mit neuen Arbeitsmethoden zu stellen hatte. Den katastrophalen Folgen der industriellen Revolution in den Städten und der Strukturveränderung auf dem Lande war mit individueller karitativer Einzelfallhilfe allein nicht beizukommen. Zur helfenden, erbarmenden, rettenden Liebe musste die gestaltende, vorsorgende Liebe hinzukommen. Das Rauhe Haus als Rettungsanstalt der heimatlosen Kinder und als erste Ausbildungsstätte für Diakone war nur ein kleiner Teil dessen, was die geistliche und leibliche Not des Volkes erforderte. Trotzdem wurde das Rauhe Haus das „einflussreichste soziale Unternehmen im protestantischen Deutschland“ und ein bleibendes Symbol für die Weltverantwortung des christlichen Glaubens.

      Wichern war kein Sozialreformer im heutigen Sinn. Trotzdem ist sein Name aus der deutschen Sozialgeschichte und aus der Auseinandersetzung zwischen christlichem Sozialismus und radikalem, klassenkämpferischem Sozialismus nicht wegzudenken. „Es ist der dringende, unabweisbare, heutige Beruf der Kirche, sich des Proletariats in seinem tiefsten Grunde anzunehmen“, schreibt Wichern im August 1848 in einem Artikel über „den Kommunismus und die Hilfe gegen ihn“. Kurze Zeit später rief er den 500 auf dem Kirchentag in Wittenberg Versammelten zu: „Die innere Mission hat es jetzt schlechterdings mit der Politik zu tun.“ In den vorangegangenen Monaten war in fast allen europäischen Hauptstädten und auch in Berlin die Revolution ausgebrochen. Im Februar 1848 war das von Marx und Engels verfasste „Kommunistische Manifest“ herausgekommen mit seinem Kampfruf: „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“

      Moderne Kritiker werfen Wichern vor, er habe sich nach 1848 zum willigen Werkzeug der preußischen Restauration gegen die demokratische Revolution machen lassen. Den meisten seiner kirchlichen Zeitgenossen – unter ihnen besonders den norddeutschen Lutheranern – war er dagegen eher zu revolutionär, zu ökumenisch und zu wenig kirchlich. Man betrachtete die Innere Mission als ein „Schlinggewächs an Stamm und Asten des Kirchenbaumes“ und lehnte es ab, die „Arbeiterfrage“ als eine Aufgabe der Kirche zu betrachten. „Die Verhältnisse des Arbeiterstandes zu ändern, steht in keines Menschen Macht“, schrieb 1849 der Hannoveraner Pastor Petri, einer der Hauptkritiker der Inneren Mission Wicherns.

      Die soziale Frage des 19. Jahrhunderts ist kein Thema der Vergangenheit. Sie ist heute brisanter denn je, denn sie hat weltweite Ausmaße angenommen und ist zu einer Bedrohung der Menschheit geworden. Ohne soziale Gerechtigkeit kann es keinen Weltfrieden geben. Nationalökonomie und staatliche Lenkung allein können die Probleme auch nicht lösen. Es ist an der Zeit, den Prinzipien ethischer Wertorientierung, dem vom Glauben geschärften Gewissen auch in den Fragen der Weltwirtschaft den ihnen gebührenden Platz einzuräumen. Nicht von ungefähr richten heute Politiker solche Erwartungen an die Adresse der Kirchen. Kirche und Theologie der Gegenwart, nicht nur die Experten der Diakonie, täten gut daran, sich intensiver mit dem geistigen Lebenswerk J. H. Wicherns kritisch auseinanderzusetzen, um die aktuelle Diskussion um den Weltfrieden sachgerechter, d. h. theologischer führen zu können.

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      Als Wichern am 22. September 1848 auf dem Kirchentag in Wittenberg in der Schlosskirche seine Stegreifrede hielt und zur inneren Mission in Deutschland aufrief, um die Not vieler Menschen zu lindern, die durch die industrielle Revolution verarmt waren und unter Hungersnot durch Missernten litten, hatten bereits um die Jahreswende 1847/48 Karl Marx und Friedrich Engels im Auftrag des Bundes der Kommunisten das „Manifest der Kommunistischen Partei“ verfasst. Wichern rief zur inneren Mission und zur Barmherzigkeit auf, Marx und Engels forderten statt Barmherzigkeit Gerechtigkeit und zu ihrer Verwirklichung den „gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung“. „Mögen die herrschenden Klassen vor der kommunistischen Revolution zittern. Die Proletarier haben nichts in ihr zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen.“ Die Geschichte hat gezeigt, dass das kommunistische Programm am menschlichen Unvermögen scheiterte, weil es unter den Gleichen immer ‚Gleichere’ gab, die in der Diktatur des Proletariats ihre Position für sich persönlich zu nutzen wussten. Auch Wichern verzweifelte letztlich daran, dass sein Entwurf eines Programms der inneren Mission zur Überwindung der sozialen Probleme nicht nach seinen Wünschen durchzusetzen war.

      Aus heutiger Sicht war Wichern ein Konservativer. Aus der Sicht seiner sozialistischen Gegenspieler galt er auch damals bereits als konservativ oder gar reaktionär. Aber für die Kirche seiner Zeit und das ‚erweckte’ christliche Bürgertum war er damals ein Herold und seine Ideen und Taten revolutionär. Für die evangelischen Kirchen in Deutschland und anderen Ländern war er der Bahnbrecher diakonischen Denkens und Handelns, und auch in der Reformpädagogik, im Strafvollzug und in Sozialarbeit und Sozialpolitik hat er bis heute bleibende Spuren hinterlassen.

      Wicherns Sprache ist uns heute etwas fremd und nicht immer leicht verständlich, seine Schriften, besonders die Handschriften nur schwer zu lesen, aber seine Zeitgenossen hat er damit wachgerüttelt.

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      Wicherns Zeit

      Manfred Schick berichtet 1981 in „Weltweite Hilfe“

      (Hessen-Nassau):

      Die Französische Revolution, im ausgehenden 18. Jahrhundert als das Fanal der Neuzeit schlechthin aufleuchtend, bringt das vorrevolutionäre Staatensystem Europas unter Napoleons Feldzügen zum Einsturz. Hamburg, die Geburts- und Heimatstadt Wicherns, steht unter französischer Besatzung, als Wichern geboren wird. Der Gedanke der Volkssouveränität und der Verfassung, die den staatlichen Gewalten ihre Aufgaben und Kompetenzen zuweist und sie begrenzt, bestimmt die politische Diskussion des Jahrhunderts. Die Tradition gottverordneter Obrigkeit ist zerbrochen, auch wenn für den Rest des Jahrhunderts nur in Frankreich die Staatsform der Republik besteht. Das Bürgertum, der dritte Stand nach Adel und Geistlichkeit, wird die gesellschaftstragende Schicht des Jahrhunderts.

      Dieses Bürgertum wird auch der Initiator einer nicht minder eingreifenden Veränderung. Ein neuer und anderer Geist wirtschaftlichen Denkens und Handelns erwacht.

      Hochkomplizierte technische Spielereien und Erfindungen gab es schon lange, aber niemand kam auf den Gedanken, diese Spielereien industriell zu nutzen. Aber über die Hintertreppen alchimistischer Versuche zur Goldherstellung und den Umweg absolutistischer Manufakturen zur Porzellanherstellung als einem unfreiwilligen Nebeneffekt alchimistischer Versuche entsteht ein Fabrikanten- und Fabrikarbeiterstand.

      Die Erfindung der Dampfmaschine und der Lokomotive, des mechanischen Webstuhls u. ä. sind Ergebnis und Anreger solcher Entwicklung zugleich. Die industrielle Revolution geht mit der politischen Hand in Hand. Fabriken entstehen. Entwicklungen, die uns heute in der Dritten Welt so unverständlich erscheinen, prägen das Bild der Zeit damals: Die Städte mit ihren entstehenden Slums, ihrer Entwurzelung aus allen bergenden Gemeinschaften, sind ganz offensichtlich für Millionen Menschen immer noch attraktiver als die Unfreiheit der ländlichen Agrargesellschaft mit ihren ausgesprochenen und unausgesprochenen Verboten: z. B. dem Verbot zu heiraten, überhaupt und wen und wann man will, dem Verbot, den Beruf seiner Wahl zu lernen und auszuüben, den Beschränkungen des Eigentums- und Besitzerwerbs usw. Am schlimmsten trifft diese Veränderung den Handwerkerstand; vor allem der kleine, arme, aber sozial integrierte Handwerker ist plötzlich der Konkurrenz industrieller Produktion nicht mehr gewachsen. Dass er Fabrikarbeiter werden muss, ist vielleicht weniger ein wirtschaftlicher Niedergang als ein sozialer Abstieg. Andere des gleichen gesellschaftlichen Standes springen auf den fahrenden Wagen auf; die großen Firmenvermögen des 19. Jahrhunderts, die Krupps, die Thyssens usw. entstehen aus vergleichsweise kleinen Anfängen. Die soziale Frage im Besonderen wird aber erst das Problem des letzten Drittels dieses Jahrhunderts werden.

      Parallel dazu entstehen die Nationalstaaten. Deutschland bleibt in diesem Punkt hinter der allgemeinen Entwicklung

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