Johann Hinrich Wichern - Herold der Barmherzigkeit. Jürgen Ruszkowski
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Im Johanneum
Der Sohn verlässt 1823 die Schule kurz vor dem Abschluss, um die Familie mit zu ernähren, und wird Erziehungsgehilfe. Aber der junge Wichern hat schon den zähen Fleiß, der Kennzeichen seines ganzen Lebens ist. Doch in diesem äußeren, bedrängten Rahmen vollzieht sich eine reiche innere Entwicklung.
Johann Hinrich Wichern ist durch und durch ein Kind der Romantik, einer kulturgeschichtlichen Epoche, die vom Ende des 18. Jahrhunderts bis weit in das 19. Jahrhundert hinein dauerte. Das merken wir besonders, wenn wir seine Tagebuchtexte lesen, die uns heute allerdings reichlich pathetisch scheinen.
Er beginnt, sein Tagebuch zu schreiben, in dem er auch einen Anfang seines geistlichen Lebens schildert (1824). Demnach hatte sein Konfirmandenunterricht ein Bekehrungserlebnis zur Folge: „Der Durchbruch geschah abends, als Gottes Geist mich anfing von neuem zu gebären. Das Licht des Evangelii erleuchtete auch für mich die Wissenschaften … ich habe Fortschritte in jeglichem gemacht.“
Es ist wunderbar, das der Mensch das, was ihm am allernächsten liegt, – und das ist er selbst – am leichtesten und liebsten übersieht. Wer dies bemerkt hat, soll und wird demnach kein Mittel unbenutzt lassen, seinen Blick auf sich, in sich zurückzuwenden.
Also der Mensch liebt die Täuschung und deswegen die Perspektive oder das Ferne und deswegen alle anderen Gegenstände – nur kennt er seinen inneren Menschen nicht. Will er den besehen, so muss er eine Brille aufsetzen; die hat er aber nicht, er muss sie annehmen, das macht ihm aber Mühe, und deswegen setzt er sie lieber nicht auf.'
Nach dem Tode seines Vaters: Jetzt erkenne ich, wie der Heimgang meines unvergesslichen Vaters mir zu großem inneren Segen geworden ist. Herr, wie sind Deine Wege und Gerichte unbegreiflich, 'hoch über den tausendsten Himmel erhaben. Hier heißt es recht: durchs Kreuz zur Freud’!
Beichtgebet: Liebreicher Vater, ich komme zu Dir als zu meinem Erbarmer und Erlöser, der Du mich allein ganz kennst, weil Du allein meine Schuld kennst. Du weißt, wie oft ich noch fleischlich und irdisch gesinnt bin, wie oft noch verwickelt in törichte Einbildungen, wie unachtsam ich das betrachte, was in mir ist, wie felsenhart mein Herz sich hält gegen Tränen der Reue und den Schmerz über meine Sünden; wie ungestüm ich bin in meinen Handlungen, wie leicht zum Zorn gebracht, wie gehör- und gefühllos gegen Dein heiliges Wort, wie schläfrig beim Gottesdienst und wachsam bei törichten Erzählungen, wie so reich an guten Vorsätzen und so bettelarm an guten Werken. Du weißt es, o Herr, am besten, wie oft ich mich auf Menschentrost verlasse, ihn suche und hoffe, während ich nur den besten und reichsten, den Du für mich bereit hältst, hätte annehmen sollen. Du kennst meinen Unglauben und meine geringe Andacht in Stunden, worin sie nicht fehlen dürften. Und dieses kann alles nicht geändert werden als durch Dich, o Herr, mein Gott! Erbarmer, erlöse mich vom Leibe dieses Todes um Deines Sohnes willen nach, Deiner Gnade. Doch; Dein Wille geschehe in alle Ewigkeit! Amen.
Ich habe überhaupt erst ein Fünkchen vom Christentum seit April und Mai, wo mein Konfirmationsunterricht bei Wolters begann. Ich hörte in dieser Zeit evangelisches Christentum bei dem lieben Pastor und glaubte historisch. Sache meines Gemütes war es nur selten und in vorübergehenden Augenblicken. Das Ganze war eine tiefe Dämmerung. Ich las die Bibel nicht und auch keine theologischen Schriften. Dabei pochte ich gewaltig auf über die Würde und Wahrheit der Bibel, lernte hundert und einige Sprüche, die ich größtenteils nicht verstand, wusste weder, was Glauben noch was Gerechtigkeit und Hoffnung sei, sprach aber viel davon, als wenn ich es alles wüsste, disputierte in der Zeit viel darüber, hielt übrigens an im Gebet, wusste aber nicht im Geiste zum Erlöser zu beten.
Kampf gegen meine „Hauptsünde“: Es ist wahr, ich bin inwendig, wenn ich andern gegenüberstehe, stolz und bilde mir was darauf ein, dass ich demütig bin, und übe so den größten Stolz.
Nach dem Abendmahl: Gib mir Kraft, die Kräfte, die Du mir heute mitgeteilt, anzuwenden zum Kampf gegen das Gesetz in meinen Gliedern, gib, dass ich einst mit Paulus rufen kann: Ich lebe; aber doch nicht ich, sondern Christus lebt in mir. (Gal. 2,20).
In demselben Augenblick, in welchem man beleidigt wird, soll man dem anderen, der beleidigt, sogleich verzeihen, ihn recht herzlich lieb haben und für ihn beten. Mein Gott, das hab’ ich heute gekonnt, das hat Dein Geist gewirkt, dank Deiner Gnade!
Je mehr Erfahrungen wir machen, desto ärger setzt der Böse uns durch Zweifel zu, um uns nicht zu verlieren, aber Seine Gnade ist größer denn alles, der Herr ist über alles!
Nach kurzer Krankheit: Mein Gott, wie Du mich gestern hast fühlen lassen die Krankheit meines Körpers, so lass mich auch durch Deinen Geist die Schwachheit und Armut meines Geistes fühlen und merken. – Wie Du mich aber hast genesen lassen durch den Schlaf, von dem ich erfrischt wieder erwachte, so erlöse Du nun auch meine Seele, vom Übel, vom Tode, den ich täglich sterben soll, bis jener Tod kommt, von dem ich übergehe in des Geistes Klarheit, der mir Deine Vaterhand reicht und mich Deinem Heiligtum nahebringt.
Rechenschaft am Bußtag: Wie glaube ich?: Ich fange an, meinem Gott herzlich zu vertrauen und mich ihm kindlich zu ergeben, aber wie oft – ach, nur einzelne Stunden – so manche Stunde vergeht ohne Blick auf Ihn! Wie hoffe ich?: Wie wenig habe ich von der lebendigen Hoffnung, der Quelle der Freuden, die mich machen soll zum Erben jenes Reiches, das mein sein soll und ewig über den höchsten Stern hinaus geht. Wie liebe ich?: Wo wird hier die Liebe bleiben bei solchem Glauben und solcher Hoffnung?! O wirke nur erst„ dass ich sie recht erkenne inwendig an mir, wie Du mich geliebt, ehe noch keiner meiner Tage über uns war. Dich soll ich lieben - mein Ich liebe ich –; mit Dir soll ich Eins werden – Du weißt, wie oft ich Dich bitte und Dich spüre – eben bin ich bei Dir – nach einer Minute wieder tief in der Welt.
Die Auseinandersetzung des „Neuen Menschen“ mit der Welt.
Ich war stets mit glühendem Eifer für die eine Wahrheit eingetreten, die ich in dieser Zeit, da ich sie immer tiefer aus der Schrift erkannte, auch immer treuer festhielt und lauter verteidigte.
Ich befinde mich in einem großen Zwiespalt, wie das Christentum mit dem Leben zu vereinigen ist, was wir von unserer Eigentümlichkeit lassen und was wir abwerfen sollen. In der Theorie mag so etwas leichter scheinen, als es in Wahrheit ist.
Undenklich groß ist die Veränderung, die seit einem Vierteljahr in mir vorgegangen ist. Ich fühle kräftiger; dies mag manchem als Hitze oder als gemacht erscheinen; ich liebe mutiger und tätiger; Verstand und Herz sind in einem großen Wetteifer; der eine will dem anderen voraus; sie erliegen wechselseitig, bis sie zu jener schönen Harmonie kommen. O schöner Tag, wo das wird wahr werden! Wo dieser nur aus eigener Erfahrung erkennbare Zustand aufhört und beide gebunden durch das reinste Band Hand in Hand einhergehen. Die Hilfe von oben wird mir nicht fehlen.
Die Jünglingsseele gleicht allem Vergleichbaren, dem tobenden Meer und der friedlichen Heimat, dem heillosen Schwelger und dem frommen Heiligen! Nenne eine Freude, einen Schmerz, den seine Seele nicht empfindet, ehe der Jüngling sich entfaltet zum kräftigen, ruhigen, schauenden Mann!
O welche Welt geht einem mit der Kunst auf! Man schwindet betäubt zurück vor den heiligen Hallen dieser Werkstatt des menschlichen Geistes.
An Gottes Hand bin ich zu dieser und zu aller Freude gelangt, die einem .das Herz vor Wonne zerschmelzen möchte.