Johann Hinrich Wichern - Herold der Barmherzigkeit. Jürgen Ruszkowski

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Johann Hinrich Wichern - Herold der Barmherzigkeit - Jürgen Ruszkowski gelbe Reihe bei Jürgen Ruszkowski

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wenden, wo kein Endlicher. es sieht. Liebe ist ein verborgenes Gebet und durch Gebet empfangenes, inwendiges Gut.

      Wir sind zu Herren der Natur und aller Geschöpfe verordnet, darum ist es Aufgabe und Pflicht, sich dienstbar zu machen alles, was zu unserem Dienst verordnet ist; nur dass wir uns nicht dienen lassen, ohne selber Diener zu sein, nicht Gehorsam fordern ohne selbst Gehorsam zu leisten; denn wer nicht Diener Gottes ist und Sein Schüler sein Leben lang, wird nicht leben im Leben, sondern sterben, da er lebt.

      In einem Brief aus Göttingen berichtet der Student, wie ihn der Anblick der in Ketten arbeitenden Gefangenen erschüttert habe. Kaum ist er in Berlin, da meldet er sich zur Mitarbeit bei dem menschenfreundlichen Arzt Dr. Julius, der für christliche Gefängnisreform eintritt. Der junge Studiosus spricht schon in dieser Zeit von dem Ziel, „den Gefangenen hinter Kerkermauern das rettende und tröstende Evangelium zu bringen“.

      Auf dem Weg von Göttingen nach Berlin besucht er in den letzten Märztagen des Jahres 1830 das Hallesche Waisenhaus.

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      Dieser Besuch beeindruckt ihn ungemein. „Ihr wisst“, schreibt er an Mutter und Geschwister, „August Hermann Francke begann dies Werk mit wenigen Guldenstücken; der Lohn und Segen aber seines Glaubens ruht in jenen 500 Kindern, die daselbst jahrein, jahraus durch Unterricht, Kleider, Speise und Wohnung noch immer der Liebe des Vaters Francke inne werden.“

      Und dann kommt der ersehnte Augenblick, da er Berlin, die Hauptstadt Preußens kennenlernt. Das Erlebnis dieser Stadt will ihn zunächst überwältigen. „Die Größe und Pracht Berlins macht einen fast stutzig; Palast und Palast, lange breite Straßen, glänzendes Militär, die prachtvollsten Equipagen, große Gebäude, in denen Kunst und Wissenschaft gepflegt und gefördert werden; zu alledem das Bewusstsein, an einem Orte zu wohnen, an welchem die größten Männer unserer Zeit leben und wirken.“ Aber es vergeht keine Woche, da gesteht er, dass er sich von der Größe und Pracht der königlichen Hauptstadt habe überraschen und überrumpeln lassen. „Der Bewunderungstaumel hat schon aufgehört… hinter glänzendem Schein versteckt sich hier bittere Armut und tiefe Sittenverderbnis…“ Das hindert ihn nicht, im Laufe der drei Semester, die er in Berlin studiert, diese Stadt lieb zu gewinnen. Aber das weniger um ihrer architektonischen Schönheit willen, die er kennen und verehren lernt. Wenn er im Spätsommer 1831 nach Hamburg zurückkehrt, wird er über dieselbe Stadt schreiben: „Berlin ist mir durch ihre Freundschaft und große Liebe solcher Männer unauslöschlich in die Seele gezeichnet, und Ihr werdet noch oft genug hören, dass ich es rühme und preise als die beste Stadt – nach unserm Hamburg.

      Den berühmten Johann August Wilhelm Neander, einen getauften Juden, den bedeutendsten Kirchenhistoriker seiner Zeit, hatte er schon in Hamburg im Hause des Senators und Großkaufmanns Hudtwalcker kennengelernt. Neander hatte wie Wichern das Johanneum in Hamburg besucht. Neander empfing ihn nun hier in Berlin mit offenen Armen. Zwischen dem berühmten Professor und dem unbekannten jungen Studenten bahnt sich bald eine herzliche Freundschaft an. Wichern schreibt an seine Mutter: „So gewaltig und groß Neander sonst dasteht, so kindlich milde und voll herzlicher Liebe ist er im vertrauten Gespräch; es ist, wie wenn man mit der Mutter oder einem lieben leiblichen Bruder spräche.“ In den kirchengeschichtlichen Vorlesungen Neanders wird das große Bilderbuch der Christenheit vor ihm aufgeschlagen als eine Beispielsammlung christlichen Lebens. Neander sucht in der Geschichte des Christentums die Äußerungen und Ausdrucksformen des gläubigen Lebens auf, die Praktizierung des allgemeinen Priestertums aller Gläubigen.

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      Wichern erfährt die Spannung zwischen der historisch-kritischen Arbeit an der Bibel, die mit der Aufklärung ihren Siegeszug durch das Abendland angetreten hatte, und der pietistischen Erweckungsfrömmigkeit, in der er aufgewachsen war, ohne in seinem Glaubens- und Gebetsleben dadurch angefochten zu werden. Neben Neander wirkt in Berlin Friedrich Schleiermacher, der große Theologe, dessen ‚Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern’ ein erster tief gegründeter Versuch waren, den draußen Stehenden die christliche Wahrheit überzeugend nahezubringen.

      Diese Lehrer weiten Wicherns Blick zu einer Gesamtschau des Christentums. Sie lehren ihn die „Theologie der Romantik“, die den einzelnen mit seiner individuellen Veranlagung lebendig einfügt in die tragenden Gemeinschaften von Familie, Volk und Kirche. Doch nicht minder berühmt war Schleiermacher um seiner großen und edlen Predigtkunst willen. Zur Zeit der französischen Fremdherrschaft war er, der Schwager Ernst Moritz Arndts, von der Kanzel der Dreifaltigkeitskirche herab ein treuer und unerschrockener Mahner und Tröster seines Volkes gewesen. Es entspricht dem Ruf und der Bedeutung dieses Mannes, wenn Wichern am zweiten Sonntag seines Berliner Aufenthaltes den Gottesdienst in der Dreifaltigkeitskirche besucht, in der Schleiermacher predigt.

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      An dem unmittelbaren Eindruck dieses Erlebnisses lässt er seine Mutter teilnehmen, indem er ihr sehr ausführlich schreibt: „Doch Ihr müsstet die Predigt gehört haben und mehreres von dem großen Manne hören, und Ihr würdet, wenn Ihr alles an ihm zusammennehmt, ihn mehr lieben als bewundern. Denn nur mit Ehrfurcht kann man sich vor solchen Männern fühlen, die Gott und der Herr der Kirche sich zu auserlesenen Rüstzeugen ersehen hat.“

      Unter Kanzel und Katheder von Schleiermache lernt er Glauben und Handeln des Christen durchdenken. Schleiermachers Betonung des Familiengedankens und Neanders Betonung des allgemeinen Priestertums im Sinne der lutherischen Reformation gewinnen auf Wichern bleibenden Einfluss, doch sind seine Lehrer nur Anreger. Wichern hat alles eigenständig umgeprägt. Sehr genau studiert er Luther und den deutschen Mystiker, Philosophen und Theosophen Jakob Böhme.

      Es ist immer wieder erstaunlich, einen wie schnellen Kontakt dieser junge Student mit den bedeutendsten Menschen seiner Zeit gefunden hat, sofern sie ihm innerlich gleich gestimmt waren – ja es ist geradezu ein auffallendes Wesensmerkmal dieses Mannes. Dies gütige Geschenk der Gnade soll in den Folgejahren viel beitragen zu den in die Breite und in die Tiefe gehenden Wirkungen des späteren Heroldes der Inneren Mission. Denn es sind in Berlin keineswegs nur berühmte akademische Lehrer, die ihn innerlich fördern; nicht minder schnell findet er den Zugang in die Häuser und Herzen so bedeutender Männer wie etwa des Geheimrates Semler oder des Barons Hans Ernst von Kottwitz. Der fromme Baron von Kottwitz, der geistige Mittelpunkt der christlich erweckten Kreise. In dessen „Freiwilliger Armenbeschäftigungsanstalt“ findet Wichern verwirklicht, was er als Ruf aus Gottes Wort zu vernehmen weiß: Hilfe und Rettung für alle Blenden und Armen. Ganz gewiss liegen in der Erweckungsbewegung jener Zeit Wurzeln und Quellen Wichernscher Glaubens- und Lebensentfaltung; freilich, nicht in eng-pietistischer Neigung, sich selbstzufrieden der Seligkeit zu freuen und der bösen Welt den Rücken zu kehren; „erweckt sein“ heißt für Wichern „gerufen sein“ zum Dienst an der Welt und die Kräfte des Evangeliums durch Wort und Werk in der Welt zu bezeugen.

      Der junge Student, der aus einer Hamburger Kellerwohnung kommt, soll sich einst im Auftrag Gottes ohne Scheu und Gehemmtheit auf dem Parkett der Königsschlösser und der Ministerien bewegen können. Das will gelernt sein. Und so bedeutet es ihm nicht nur Freude, sondern auch Hilfe, dass er im Hause des Geheimen Oberfinanzrates Semler aus- und eingehen darf. Semler ist weltgewandt und in hohen Stellungen in Rom, Paris und Petersburg gewesen. Jetzt ist er am staatlichen Armenwesen sowie am Gefängniswesen lebendig und persönlich interessiert. Einen tiefen Eindruck macht auf Wichern auch die weitschauende Klugheit und Herzenswärme des Mannes und die schlichte Zurückhaltung der jungen Hausfrau, mit der sie still ohne Absicht die Gespräche wie den Geist des Hauses prägt. Hier lebt die gute Atmosphäre des besten Bürgertums aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts, die erfüllt ist von einer vielgestaltigen Bildung und bereichert durch weitverzweigte Beziehungen. Aber der Grundton dieses vornehmen Hauses ist auf denselben Ton gestimmt, der in Wicherns schlichtem Elternhaus die Dominante darstellte:

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