Jenseits der Tür. Bernhard Höfellner

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Jenseits der Tür - Bernhard Höfellner Kurzgeschichten

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schien mir möglich. Nichts davon plausibel. Ich lief auf einer Straße, die kein Ende nahm. Stand in einem Wald, der keinen Himmel hatte. Und ich schrie in eine Stille, die mich nicht hören konnte.

      Erschöpft lehnte ich mich an einen Baum und glitt an seinem Stamm zu Boden, bis ich saß. Weiches grünes klammes Moos empfing meinen müden Körper. Nur zehn Minuten ausruhen, zu Kräften kommen, dann würde ich mein Glück in der anderen Richtung versuchen. In Gedanken lief ich den Weg durch den Wald ab, vorbei an drei weiteren Gabelungen, immer geradeaus, durch eine kleine Senke, eine sanfte Anhöhe hinauf, bis sich links die stillgelegte Kiesgrube öffnete. An deren Rand entlang, mit Blick auf blauen Himmel, die Bäume hinter mir, musste ich nur noch wenige hundert Schritte laufen, bis ich die ersten Häuser rechts von mir zu sehen bekam. Der Kindergarten schloss sich gleich nach dem Ortsschild an, eine Bäckerei gleich gegenüber. Dort würde ich mir Kaffee holen und zuhause anrufen, um mich abholen zu lassen.

      Nach fast einer Stunde stand ich schließlich auf. Ich fühlte mich unendlich müde. Meine Waden brannten. Das konnte unmöglich von der Anstrengung herrühren. Ich war zwar untrainiert, aber nach vier Wochen Reha war ich fitter denn je.

      Es war die Stille. Sie saugte mich aus, zehrte an meinen Reserven. Leichte Stretch- und Dehnübungen sollten mich vor Krämpfen bewahren, dann lief ich in leichtem Tempo los. Ich passierte die erste Gabelung - links zum Bachlauf, rechts zum Trafohäuschen - und ich hatte das Gefühl, wieder in Form zu kommen. Wurde es nicht auch heller? Während ich lief, achtete ich nicht mehr auf die Stille. Außer meinen Schritten, meinem Atem und dem metallischen Klimpern meiner Schlüssel blendete ich alles aus. Meinen Blick fest auf den Weg vor mir gerichtet lief ich weiter. Jetzt müsste eigentlich eine der nächsten Weggabelungen kommen. Doch so sehr ich mich auch anstrengte, vor mir konnte ich keine Gabelung ausmachen. Der Weg führte sanft ansteigend schnurgerade durch den stillen Wald. Ich verscheuchte die Gedanken an die Stille und summte ein paar Takte aus Mahlers dritter Symphonie. Es half. Zumindest bis ich eine Pause einlegen musste. Ein neuerlicher Blick auf meinen Schrittzähler bestätigte, was ich bereits geahnt, nein, gefürchtet, hatte: Ich war nun mehr als viertausend Schritte gelaufen, die Kiesgrube hätte sich links vor mir auftun, der Waldrand zum Greifen nah sein müssen. Stattdessen sah ich nur noch dichteres Grün um mich. Und mittendrin war ich und schnaufte und keuchte und schwitzte. Ich war am Ende. Konnte nicht mehr. Langsam ging ich auf der Stelle und sah mich um. Ein paar Steine kickte ich mutwillig in die Büsche. Mir war nach Heulen zumute, nach schmollen und aufgeben. Warum hatte ich mein Telefon nur zuhause gelassen? Weil es in diesem Wald sowieso nie Empfang gab. Kein Empfang, kein GPS, gar nichts. Noch nicht einmal Geräusche. Es war wie der Aufenthalt in einem Floatingtank.

      Dann traf ich eine Entscheidung. Ich wollte warten. Hier. An Ort und Stelle ausharren, bis mich meine Frau vermissen würde, wenn sie es nicht schon längst tat. Für eine Stunde wollte ich weg sein, jetzt war ich seit mehr als drei Stunden unterwegs. Was würde sie tun? Sie wusste, wo ich hin wollte. Ich ging vor meiner Reha gern in diesen Wald. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich aufmachen würde, um mich zu suchen, war gegeben. Sie konnte mit dem Fahrrad den Hügel hochkommen, immer geradeaus in den Wald fahren und mich finden. Alles, was ich zu tun hatte, war an Ort und Stelle bleiben und mich finden lassen. Ich suchte mir ein schönes Plätzchen und setzte mich in halbwegs trockenes Moos zu Füßen einer stattlichen Birke. Es roch erdig und leicht nach Moder, nicht unangenehm, unter anderen Umständen. Aber jetzt? Heute? Es war wie der Geruch meines eigenen Grabes. Das satte Grün der dicht gewachsenen Fichten war der Deckel des sich schließenden Sarges, das Moos der Samtbeschlag in seinem Innern. Als ich so darüber nachdachte, verfiel ich in ein debiles Lachen. Ich grinste von einem Ohr zum anderen und musste an die Therapeutin in der Rehaklinik denken. Sie hatte mir gegen den Stress viel Ruhe verordnet. Langsame Spaziergänge im Wald. Und jetzt? Was würde sie von dieser Ruhe halten? Diesem Wald, der mich akustisch aushungerte?

      Später? Vermutlich. Ich war kurz weg. Mir war etwas kalt geworden. Die Beine waren wegen der kurzen Hosen nur unzureichend gegen Wärmeverlust geschützt. Unter meinem Hintern drückte etwas und ich wollte mich zur Seite neigen, um zu sehen, was das war, konnte mich aber nicht bewegen. Etwas hielt mich an den Stamm gedrückt. Um meinen Bauch hatte sich ein dünnes weißes Gespinst gelegt, dass mich mit dem Baum verband. Meine Finger griffen selbständig nach den dünnen Fäden und versuchten, diese zu zerreißen. Einzelne Fäden lösten sich, doch gelang es mir nicht, auch nur einen zu zerreißen. Stattdessen juckten meine Finger, die die Fäden berührt hatten. Rote dünne Striemen waren auf meinen Handinnenflächen zu sehen. Ich rieb sie auf dem feuchten Moos mit der Absicht, der letzte Rest Tau würde kühlen. Es machte die Sache aber nur noch schlimmer. Ganz plötzlich brannten meine Handflächen entsetzlich und ich riss meine Hände aus dem Moos. Überall um mich herum lag das gleiche Gespinst. Es umgab mich, den Baum und lag dünn auf dem Moos wie extrem dünne Spinnenfäden. Meine Hände bluteten. Ich hatte ganze Stränge des Gespinstes in meine Haut gerieben und offensichtlich reagierte ich allergisch darauf. Nasse blutende Wunden verunzierten meine Hände. Vorsichtig zupfte ich die Fäden, so gut es ging, aus den Wunden und tupfte die Fläche an meinem T-Shirt trocken, peinlich darauf achtend, nicht noch einmal in diese Fäden zu greifen. Was war das? Je länger ich um mich herum die Bäume betrachtete, stellte ich fest, dass alle Birken um mich herum dieses Gespinst zeigten. Mal hatte es sich um den Stamm gelegt. Mal auf dem mit Blättern bedeckten Boden ausgebreitet. Ein Stamm war bis ungefähr zwei Metern Höhe völlig eingesponnen. Bei näherer Betrachtung glaubte ich, etwas in dem dicht gesponnen Flechtwerk aus dünnen Fäden zu erkennen: Vögel, Eichhörnchen, Marder?

      War das die Ursache für die Stille? Gigantische Spinnennetze? Ich hatte von Spinnen gelesen, die Vögel jagten - aber Spinnen, die so feste Fäden spannen? War es ein Pilzgeflecht? Der dunkle Hallimasch in Nordamerika stellte mit seinem Myzel das größte Lebewesen der Erde dar. Konnte ein Pilz überhaupt oberirdisch gedeihen? Was wusste ich schon über Pilze?

      Ich versuchte, durch langsames hin- und herschaukeln, meine Lage zu verbessern, aber es half nichts. Dass meine Hände schmerzten, machte es nicht leichter. Schließlich gab ich meine Bemühungen auf. Gleich würde meine Frau herbei radeln und mich aus dieser peinlichen Situation retten. Wir würden beide darüber herzlich lachen und ein paar Pilze aus diesem Wald verspeisen. Langsam verlor ich darüber das Bewusstsein.

      Ein heftiger Schmerz in meinen Beinen ließ mich aufschrecken. Ein kurzer Blick verriet, dass meine Beine bereits unter einer dicken Schicht weißer Fäden verschwunden waren. Sie brannten furchtbar. Mein rechter Arm klebte an meinem Bauch fest. Nur meinen Kopf konnte ich noch drehen und meinen linken Arm halbwegs frei bewegen. Tränen traten in meine Augen. Es war dunkel geworden. Wie lange hatte ich geschlafen? Meine Smartwatch konnte ich nicht sehen, sie klebe mit meinem rechten Arm an meinem Körper. Ich versuchte, meine Position so gut es ging, zu ändern und ließ es sofort bleiben. Blut sickerte bei jedem Versuch einer Bewegung durch die Fäden. An meinen Beinen und, soweit ich das sehen konnte, an meinem Bauch. Hinter meinem Ohr spüre ich bereits wie die Fäden sich an meinem Kopf zu schaffen machen. Wachsen die Fäden aus dem Ohr? Konnte ich deshalb nicht mehr hören? Hatte ich mir unterwegs Pilzsporen eingefangen? Aber welcher Pilz konnte so schnell wachsen?

      Wieder dieses debile Lachen. Erwachsener Mann wurde Opfer eines morgendlichen Pilzangriffs! Was für eine Schlagzeile für die regionale Wochenzeitung. Ich lachte. Das tat weh. Ein heftiger Hustenanfall erschütterte meinen Brustkorb und ich spuckte klumpiges Blut. Es saß also bereits in mir fest. War es durch die Haut gewachsen? Hatte ich Sporen eingeatmet?

      Meine Linke griff gegen den Widerstand weiterer Fäden in die Hosentasche. Der MP3-Player. Ich schielte mit meinen Augen, der Kopf wurde mittlerweile durch diverse Fäden am Birkenstamm fixiert, zu dem kleinen schwarzen Gerät. Wenn ich es irgendwie schaffen würde ...

      Ja! Der Knopf. Ich drückte auf Aufnahme, das kleine Blinklicht zeigte an, dass es aufzeichnete. Und so fing ich an, meine Geschichte zu erzählen. Bis ich zwischendurch immer wieder eingenickt bin. Wenn das jemand findet, dann wird er hoffentlich meiner Frau und meinen Kindern erzählen können, was mir passiert ist. Ich hoffe allerdings inständig, dass niemand diese

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