Jenseits der Tür. Bernhard Höfellner
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Wolken zogen auf und aus dem feuchten Boden kroch ein klammer Nebel. Die Vögel waren verstummt und wichen nun den Tieren der Nacht.
Ich musste eingenickt sein, denn als ich wieder zu Sinnen kam, war es stockfinster. Aus der Hecke hinter mir hörte ich einen Kauz rufen. Der Nebel stand jetzt dichter und der Mond konnte kaum durch die Wolken dringen. Das wenige Licht ließ die Grabsteine lange Schatten werfen.
Ich erhob mich, sah mich um. Ärger wallte in mir auf. Wollte ich doch bei Tageslicht meiner Theorie nachgehen. Mir war kalt und es war dunkel und während ich so fröstelnd dastand und meine Hände durch heftiges Aneinanderreiben zu wärmen versuchte, hatte ich einen Einfall. Ich ging zu einem der Gräber, sah mich kurz um und griff nach der kleinen Laterne mit der flackernden Kerze, die jemand für seinen verstorbenen Liebsten zurückgelassen hatte. Es war nicht viel Licht, aber für meine Zwecke war es mehr als ausreichend. Ich wollte gerade losgehen und meinen Plan umsetzen, als ich ein lautes Knacken hörte. Es kam von hinter mir, aus dem älteren Teil des Friedhofs. Sofort fuhr ich herum und blickte ängstlich in die Dunkelheit. Wie sehr doch der Mut, den wir bei Tageslicht haben, in der Dunkelheit archaischen Ängsten weicht!
Das spärliche Licht der Kerze drang nur wenige Schritte weit in die Dunkelheit vor. Da! Wieder ein Knacken. Diesmal aber rechts von mir. Wieder fuhr ich herum und machte einen Schritt zurück. Dann lauschte ich, wagte kaum, zu atmen. Nach wenigen Herzschlägen entließ ich die Luft meinen Lungen und schalt mich einen Toren. Ich lächelte. Hatte mich der alte Seamus mit seiner Angst vor Friedhöfen angesteckt? Sicher nicht. Wahrscheinlich trieb ein Dachs sein Unwesen auf diesem Friedhof.
Ich besann mich auf meinen Plan und wollte diesen mit System umsetzen. Zunächst wollte ich, beginnend mit den Gräbern in der Nähe des Tores, alle Reihen abgehen. Der Name, den ich suchte, war mir nun bekannt. Seamus O"Dara! Ich war mir sicher, dass es sich bei ihm nur um ein Gespenst handeln konnte. Er erschien jeden Tag zur gleichen Zeit, sprach ein paar Worte um dann wieder zu verschwinden. Niemals sah ich ihn den Friedhof betreten oder diesen verlassen und niemals hatte ich gesehen, dass er etwas anderes als seine Pfeife zu sich genommen hätte. Und heute bestätigte er meine Theorie, als er sagte, er sei an diesen Ort gebunden. Mich selbst für meinen Scharfsinn beglückwünschend, war ich am Tor angelangt. Es war leider verschlossen, so dass ich, um den Friedhof später verlassen zu können, vermutlich über die Mauer klettern oder durch die Hecke im älteren Teil schlüpfen musste.
Vor mir erstreckten sich zahllose Gräber. Einige davon schön bepflanzt, andere wiederum waren verwahrlost. Nicht so schlimm, wie diejenigen oben, aber offensichtlich kümmerte sich hier jemand nur halbherzig um seine Verstorbenen.
Ich strich durch die Reihen und ließ den kleinen Lichtkegel der Laterne über die eingravierten Namen gleiten. Soweit ich auch schaute, es gab keinen Seamus O"Dara. Nach ungefähr eineinhalb Stunden hatte ich den gesamten jüngeren Teil des Friedhofs abgesucht. Es blieb nur noch der alte Teil mit seinen Grüften.
Ich drehte mich um und besah das Feld mit seinen Mausoleen, verfallenen Gräbern und verwachsenen Bäumen. Ein wildes Durcheinander bot sich meinem Blick und das kleine Licht, dass ich bei mir hatte, machte es nur noch schlimmer. Worauf sein Schein auch fiel, es verwandelte sich kraft meiner Vorstellung in bewegte Bilder, Kreaturen und Fratzen. Ja, ich gestehe es, ich hatte Angst bekommen. Meine Suche war erfolglos verlaufen. Was hatte ich mir dabei nur gedacht? Ein Gespenst? Wahrscheinlicher war, dass er mich nur verwirren wollte, dass er sich einen Streich mit mir machen wollte, als er sagte, er sei an diesen Ort gebunden. Er hatte geahnt, was ich im Schilde führte. Er musste sich über mich informiert haben. Es gab ja nur mich, Frank Dooley, der größte Spiritist der Stadt, der öffentlich gewettet hatte, bei seinen Séancen ein echtes Gespenst auftreten zu lassen. Nur war mir dies bislang nicht gelungen. Bis heute. Heute hätte ich ihn finden können - den endgültigen Beweis. Eine Séance auf dem Friedhof zur rechten Zeit am rechten Ort, das Erscheinen des alten O‘Dara, es hätte sich alles gefügt.
Was war das?
"Hallo? Ist da jemand?"
Erschrocken von einem knurrenden Geräusch war ich herumgefahren und ließ den Kegel der Laterne die Dunkelheit vor mir erhellen. Es war aber nichts zu sehen.
Da war es wieder!
Hinter diesem Grab. Ganz eindeutig ein Knurren! War es ein Hund, der hier nach Knochen grub? Nun, warum auch nicht? Knochen gab es hier in allen Größen und Formen zuhauf!
"Ksch! Kschksch!", machte ich und warf mit ein paar Kieseln auf den Grabstein, hinter dem ich das Geräusch vermutete.
Da bewegte sich etwas. Es kam aus dem Schatten des Grabsteins getreten.
Auf das, was sich nun aus der Dunkelheit schälte, war ich nicht vorbereitet:
Eine Kreatur, etwas größer als ein Hund, auf alle viere gebeugt trat vor mir auf den Weg. Die Hinterbeine waren lang und knickten in der Mitte unnatürlich ab. Seine Vorderläufe waren kürzer, aber kräftig und endeten in Messerlangen Krallen. Der Kopf der aberwitzigen Kreatur war lang und schmal mit spitzen Ohren wie der eines Schakals. Doch es fehlten die Augen! Eine lange, gespaltene Zunge hing aus seinem Maul, in dem mehrere Reihen gelber Zähne, nass vom Speichel, im Schein der Laterne glänzten. Was bei allen Engeln war dies für ein Monstrum? Kein Haar am ganzen Körper, der fahlrosa schimmerte. Unter der Haut sah man bei jeder Bewegung die Muskeln zittern. Es knurrte und seine Zunge zuckte wie die einer Schlange aus seinem Mund. Nahm es Witterung auf? Die fehlenden Augen ließen mich folgern, dass es sich um eine nachtaktive Kreatur handeln musste. Aber was war es?
Ich wich zurück und sah mich nach etwas um, das ich als Waffe benutzen konnte. Aber ich konnte nichts erkennen. In meiner Not griff ich nach einem Stein und wollte ihn bereits nach der Kreatur werfen, als ich bemerkte, dass es sich um einen Schädel handelte. Es war ein Schädel, der zum Teil noch von Fleisch bedeckt war. Da sah ich das Blut an den Krallen des Wesens. Es schwang seinen Kopf nach links und rechts, die Zunge zuckte und schmeckte in der Luft. Dann setzte es sich in Bewegung und kam geradewegs auf mich zu. Langsam. Sein Knurren wurde lauter und ich wich schneller zurück. Ich umrundete das Grab, hinter dem ich die Kreatur aufgeschreckt hatte, und sah zu meinem Entsetzen, dass es zur Hälfte aufgescharrt worden war und Stücke eines Menschen, zum Teil verfault und zum Teil gefressen, in der aufgewühlten Erde lagen. Von hier war also dieser Schädel. Ich hatte das Monstrum bei seinem nächtlichen Mahl gestört. War dieses grässliche Etwas der Grund, weshalb mich Seamus warnte, die Nacht hier zu verbringen? Es konnte mich wittern und folgte mir. Ich schlich von Grabstein zu Grabstein, rüttelte an verrosteten Ketten vor alten Türen, die Zugänge zu Grüften sicherten. Es war sinnlos. Mein Vorsprung wurde geringer, je länger ich versuchte zurückzuweichen.
Also entschied ich mich für eine verzweifelte Tat: Wenn ich mich umdrehte, der Kreatur meinen Rücken zuwandte, dann sah ich die Hecke. Wenn ich schnell genug laufen würde, hätte ich eine Chance, mich durch eine Lücke der Hecke zu zwängen, bevor mich ihre scharfen Krallen zu packen bekämen. Ich griff nach ein paar Kieseln, der Kopf des Untiers zuckte augenblicklich in meine Richtung. Dann warf ich die Steine, soweit ich konnte, und sie prasselten auf verschiedene Grabsteine und Platten. Sofort sprang es in die Richtung der Geräusche und ich hörte sein wütendes Fauchen und schnappen. Dann wandte ich mich um und rannte, so schnell ich konnte.
Ich war gerade zwei, vielleicht auch drei Meter weit gekommen, als ich über eine Wurzel stolperte und ins Straucheln kam. Beim Versuch, mich abzustützen, prellte ich mir meine Hand und meine Schulter an einem großen Grabstein. Es tat höllisch weh. Dennoch unterdrückte ich einen Schrei und blieb ruhig liegen. Kein Geräusch kam aus meiner Lunge. Meine Augen waren weit aufgerissen und starrten in die Dunkelheit. Da! Ich hörte die Schritte, wie sie auf mich zukamen. Klack! Klack! Klack!