Ein fast perfekter Sommer in St. Agnes. Bettina Reiter
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Читать онлайн книгу Ein fast perfekter Sommer in St. Agnes - Bettina Reiter страница 18
„Du musst noch viel lernen, Leni. Vor allem, dass das Leben kein Märchen ist, sondern hart und schwierig sein kann. Wir müssen alle zusehen, wo wir bleiben.“
„Ich kann diesen Spruch nicht mehr hören und wenn ich mir überlege, wie du und Großvater Geschäfte macht, könnte ich kotzen.“ Kaum ausgesprochen lief sie aus der Küche.
„Du bist undankbar“, rief er ihr hinterher und ärgerte sich maßlos. Was glaubte seine Tochter denn, für wen er so hart schuftete? Immerhin führte sie ein gutes Leben und konnte sich vor Geschenken kaum retten, die schließlich nicht auf Bäumen wuchsen. Aber statt sich zu freuen, machte sie ihm das Leben schwer und verleidete ihm sogar die Beziehung mit Senta. Dabei bemühte sich seine Verlobte sehr um Leni, die ihr hingegen nur die kalte Schulter zeigte. Hoffentlich änderte sich das nach der Hochzeit. Immerhin waren sie dann eine Familie und würden zusammenleben. Allerdings wäre es vielleicht besser, wenn sie Leni nicht mehr unterrichtete, womit sie zumindest eine Konfliktsituation weniger am Hals hätten …
♥
„Du liebe Zeit, da ist aber einiges los in Ihrem Leben“, drang Roses Stimme zu Annie durch, in die langsam wieder Leben kam. Sie saß mit den Frauen an einem runden Tisch, auf dem ein geklöppeltes Set lag. Darauf stand eine Glaskugel, vor Rose eine Porzellantasse mit hellblauem Blumenmuster, in die sie mit geweiteten Augen hineinstarrte, als würde Frankenstein darin seine Runden laufen. Besser konnte man ein Klischee nicht bedienen.
Ohnehin wirkte das Geschäft, als hätte man es gemäß der Serie Buffy – im Bann der Dämonen eingerichtet. Ein Regal mit alten verstaubten Büchern nahm eine ganze Wandseite ein. Überall brannten rote Kerzen und es roch nach einem seltsamen Kraut. Bilder mit okkulten Zeichnungen lagen verstreut herum und auf einer großen Truhe Kapuzenumhänge sowie einige Hüte. Auf einer Biedermeierkommode wurde eine geöffnete Schatulle zur Schau gestellt, in der sich ein antiker Revolver befand. Daneben stand ein Glas mit Silberkugeln und nahe dem Eingang lehnte ein Holzpfahl. Dass die Wände und der Bodenbelag in grellem Pink gehalten waren, setzte dem Ganzen die Krone auf.
„Suchen Sie Dracula? Oder Barbie?“, konnte Annie nicht umhin zu fragen, die sich ärgerte, dass sie sich von Minnie zu dieser Frau schleifen ließ.
„Es gibt mehr zwischen Himmel und Erde, als wir uns vorstellen können.“ Rose wollte ebenfalls nicht recht in das Bild des Geschäftes passen. Die Gute sah aus wie ein Marilyn Monroe-Verschnitt mit ihrem blonden kinnlangen Haar, das sich an den Spitzen lockte. Natürlich hatte sie das obligatorische Muttermal nahe den Lippen, das jedoch echt wirkte. Ihr Mund war rot wie das Kleid mit den weißen Längsstreifen, das vom Schnitt her an die Sixties erinnerte. Ohne Frage, sie hatte die Figur einer Zwanzigjährigen, die faltige Haut hingegen zeigte, dass diese Filmdiva längst in die Jahre gekommen war. „Sie sollten Ihren Horizont erweitern, junge Dame.“
So wurde Annie von Mrs. Wilde früher auch angesehen, wenn sie eine schlechte Note geschrieben hatte. „Nicht jeder kann mit solchen Dingen etwas anfangen.“
Minnie – die immer noch Annies Shortbread hielt – schaute Rose nachsichtig lächelnd an. „Die kleine Maus ist etwas neben der Spur.“
„Ich bin keine kleine Maus“, wehrte sich Annie.
„Gewiss, Schätzchen“, ließ Rose verlauten und schaute wieder in die Tasse. „Ich sehe tiefe Verletzungen.“
„Hat nicht jeder von uns Narben?“, zerstreute Annie diese Aussage postwendend.
„Natürlich. Aber Ihre sind frisch wie Fallobst.“
„Fallobst ist nicht frisch. Deshalb fällt es ja auch herunter.“ Sehnsüchtig blickte Annie zum Ausgang. Auf dem Glas prangte ein Schild. Geöffnet für alle Wunder dieser Welt. Für die Kehrseite fiel ihr spontan etwas ein: Geschlossen – weil es keine Wunder gibt.
„Hör ihr einfach zu“, bat Minnie, die das Shortbread auspackte und herzhaft hineinbiss.
„Das ist mein …“
„Schschsch!“ Rose legte sich den Zeigefinger an den schimmernden Mund. „Ich spüre eine fremde Energie im Raum.“ Plötzlich hob sie den Blick und musterte Annie, als würde sie sie zum ersten Mal sehen. „Ich kann ein Auto erkennen … es sieht lädiert aus.“
„Unser Alfa ist im Dorf bekannt wie ein bunter Hund“, gab Annie patzig von sich. „Und noch haben wir ihn nicht bestattet. Also kann er nicht im Jenseits sein.“
„Eine Energie zu spüren hat nichts mit den Welten zu tun, meine Teure. Außerdem meinte ich nicht Ihre Schrottkarre. Eher eine … Limousine. Eine weiße und da …“ Sie grinste auf einmal, als hätte sie soeben einen muskelbepackten Engel gesehen, während Annie an Flatley denken musste. Aber das konnte nur Zufall sein … „Was für ein Prachtbursche! Der erinnert mich an jemanden …“
„George Clooney?“, hakte Minnie kauend nach. Rose schüttelte den Kopf. „Kirk Douglas? John Wayne?“ Abermals schüttelte Rose den Kopf. „Dann fällt mir nur noch George Clarke ein, du weißt schon, der aus der Sendung Restauration-Man.“ Wie aufs Stichwort lehnten sich die Freundinnen aufseufzend zurück und erinnerten Annie stark an verliebte Teenager. „Von ihm würde ich mich gerne restaurieren lassen“, entschlüpfte es Minnie, die sich ordnend durch das dauergewellte Haar fuhr.
„Was du nicht nötig hast, meine Liebe.“ Wohlwollend wurde sie von Rose betrachtet, die ohnehin in höheren Sphären schwebte. Wie es aussah, trafen sich die beiden Mädels jedoch gerade auf derselben Ebene. Das wurde Annie allmählich zu bunt. Sie hatte andere Sorgen als sich dieses Gelaber anzuhören. Die gesamten Hiobsbotschaften des Tages mussten erst einmal verdaut werden. Allein – und nicht mit den Geistern, die sie nie gerufen hatte.
„Jedenfalls“, bemüßigte sich Rose weiterzureden, während sich Minnie den letzten Bissen in den Mund schob, „sehe ich Schnapsflaschen. Ihr Vater?“
„Was ebenfalls kein Geheimnis ist.“ Annie hätte am liebsten laut gelacht, wäre der Anlass nicht so traurig gewesen.
„Das wird sich alles fügen, junge Dame. Insbesondere werden Sie eine alte Liebe bald vergessen, denn ich sehe einen neuen Mann in ihrem Leben, wer immer dieser Adonis sein mag.“
„Von Männern habe ich die Schnauze voll.“
„Jetzt vielleicht. Dennoch wird er Ihr Herz im Sturm erobern.“
„Tatsächlich?“, flüsterte Minnie erstaunt. „Du weichst aber ziemlich von unserem Drehbuch ab … und bisher hast du kein Wort zu ihrer Mutter gesagt.“
„Was soll ich tun, wenn ich sie nicht sehen kann …“
Annie schaute von einer zur anderen. „Was wird das hier?“, rief sie aus, „ein abgekartetes Spiel? Habt ihr euch vorher überlegt, welche Geschichte ihr mir auftischt?“
„Du solltest dich mit deiner Mom aussöhnen“, wisperte Minnie und sank tiefer in den Stuhl.
„Sagt wer?“, erkundigte sich Annie mit säuerlichem Ton.
„Jeremy.“
„Steckt mein Onkel