Ein fast perfekter Sommer in St. Agnes. Bettina Reiter
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Читать онлайн книгу Ein fast perfekter Sommer in St. Agnes - Bettina Reiter страница 20
Ein Geräusch schreckte sie hoch. Annie wandte sich um und blickte zum Fenster neben der Eingangstür. Als sie Harrys Wagen erkannte, kam Wut in ihr hoch. Brachte er ihr die Papiere höchstpersönlich vorbei, um sich an ihrem Elend zu weiden?
Zu allem entschlossen eilte sie aus dem Geschäft. Als Mister Flatley aus dem Auto stieg, blieb sie abrupt am Eingang stehen. Was wollte der denn hier? Hatte er es sich anders überlegt und sie musste die Rechnung doch bezahlen? Kurz schossen ihr auch Roses Worte durch den Kopf, die sie jedoch sofort beiseite wischte. Humbug, nichts weiter
„Sieh an, so klein ist die Welt“, meinte er nicht weniger überrascht, als sie sich fühlte, während er die Autotür zuschlug und auf sie zukam. „Ich habe mir schon gedacht, dass ich das Vehikel von irgendwoher kenne.“
„Was tun Sie mit Harrys Wagen?“, ging sie nicht auf seine Beleidigung ein.
„Er hat ihn mir geliehen. Meine Limousine ist hinüber.“ Mister Flatley stand dicht vor Annie und sein Roger-After-Shave hatte diesmal eine noch verheerendere Wirkung auf sie, denn sie hörte förmlich Hochzeitsglocken läuten. Durchdringend und laut.
„Harry leiht niemandem sein teures Spielzeug.“
„Mir schon“, meinte Flatley selbstherrlich. „Ich schätze, dass ich sein Vertrauen genieße.“
„Oder er lässt sich gut dafür bezahlen. Sie nehmen sich ja gern Bedürftigen an.“
„Wieso wetzen Sie die Nägel? Sind Sie immer noch nicht über die Kündigung hinweg?“
„Die habe ich bereits vergessen“, wetterte Annie, „immerhin ist sie einige Stunden her.“
„Eben. Deswegen sollten Sie fleißig neue Bewerbungen schreiben. Von nichts kommt nichts.“ Seine stoische Ruhe schürte ihren Zorn, als würde jemand auf schwelende Glut blasen. Noch dazu wanderte Flatleys Blick ständig zum Geschäft, statt dass er ihr in die Augen schaute.
„Sie haben ja keine Ahnung“, presste sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Nebenbei erwähnt: Heute nannten Sie mich unhöflich, weil ich Sie beim Reden nicht angesehen habe. Wie nennen Sie das, was Sie im Augenblick tun?“
„Ausgleichende Gerechtigkeit“, blies auch er zum Angriff, konzentrierte sich jedoch unvermittelt auf sie. Die Intensität seiner blauen Augen verunsicherte Annie plötzlich und nun wäre es ihr doch lieber gewesen, wenn er überall hingesehen hätte, nur nicht in ihr Gesicht.
„Warum betrachten Sie ständig das Geschäft meines Großvaters?“, wollte sie wissen, um irgendwas zu sagen.
In seinen Augen flackerte etwas auf. „Das Haus gehört Ihrem Großvater?“
„Es gehörte ihm. Grandpa ist gestorben und hat es mir hinterlassen.“
„Dann sind Sie also tatsächlich Annie … Murphy?“
„Woher kennen Sie meinen Nachnamen?“
„Keine Ahnung.“ Es war eindeutig, dass er ihrer Frage auswich. „Ich habe ihn vermutlich irgendwo aufgeschnappt.“ Er blickte sich um. „Eine wirklich schöne Lage.“
Annie hatte das Gefühl, dass es doch schlimmer werden konnte. Obwohl sie keine Ahnung hatte, aus welcher Ecke der nächste Angriff erfolgen würde. „Sonst noch etwas, Mister Flatley?“
„Ja: Haben Sie zufällig meine Tochter gesehen? Braune Zöpfe, grelle Latzhosen und ziemlich frech?“
„Wenn Sie Leni meinen, die habe ich getroffen“, kombinierte Annie und wusste nun, warum ihr das Mädchen bekannt vorkam. „Allerdings fand ich sie äußerst reizend.“
„Wo haben Sie meine Tochter gesehen?“, überging er ihre Aussage und wirkte auf einmal schlicht und ergreifend wie ein besorgter Vater. Also war er verheiratet. Die arme Frau!
„Am Town Hill.“ Annie deutete in die entsprechende Richtung. „Ich bezweifle jedoch, dass Sie Leni dort finden werden. Vermutlich ist sie längst wieder zuhause. Aber sie hatte ihr Handy dabei. Sie könnten Ihre Tochter anrufen.“
„Das habe ich schon versucht. Sie hebt nicht ab. Könnten Sie vielleicht …?“
„Hören Sie mal, ich bin eine völlig Fremde und nicht ihre Mutter.“
Ein schmerzvoller Schatten huschte über sein Gesicht. „Ich würde Sie nicht darum bitten, wenn es sich vermeiden ließe. Außerdem schulden Sie mir etwas.“
„Also gut“, zischte Annie und zog das Handy aus ihrer Tasche. Dann tippte sie die Nummer ein, die Mister Flatley ihr nannte und schaltete auf laut, damit er mithören konnte. Nach zwei Freizeichen wurde abgehoben. „Hallo, Leni“, begann sie etwas hilflos, „ich bin es, Annie. Die Frau, die dich vorhin angerempelt hat.“
„Woher haben Sie meine Nummer“, kreischte das Mädchen.
Annie hielt den Hörer weiter weg. „Von …“
„Stalken Sie mich etwa?“
„Natürlich nicht. Ich wollte nur wissen, wo du gerade bist.“
„Sie halten mich wohl für ganz doof. Glauben Sie im Ernst, dass ich Ihnen sage, dass ich zuhause bin?“ Im selben Augenblick legte sie auf.
„Das haben Sie ja toll hingekriegt“, beschwerte sich der Wichtigtuer allen Ernstes, statt dass er ihr die Füße küsste. „Jetzt hat meine Tochter eine Heidenangst.“
„Sie wollten doch, dass ich sie anrufe.“ Annie schob das Handy in die Gesäßtasche ihrer Jeans.
„Natürlich. Allerdings hoffte ich, dass Sie etwas mehr Feingefühl hätten.“
„Das sagen ausgerechnet Sie? Haben Sie sich Ihre Tochter mal genauer angesehen?“
„Was wollen Sie damit andeuten?“, zürnte er und lockerte die Pünktchen-Krawatte.
„Genug, um zu sehen, dass Ihre Kleine ziemlich traurig ist.“
„Ach, sind Sie plötzlich Fachfrau in Erziehungsfragen? Ich dachte, Sie wären eine Expertin darin, hinausgeworfen zu werden.“
Sein Pfeil hatte mitten in die Wunde getroffen. „Das war das erste Mal in meinem Leben!“
„Und es wird nicht das letzte Mal gewesen sein, so viel steht fest.“ Erneut huschte sein Blick über das Geschäft ihres Großvaters, bevor er sich umdrehte, in den Wagen stieg und davonbrauste. So ein Arschloch!
Darüber beklagte sich Annie am frühen Abend bei Josie. Via Facebook, denn das kostete nichts. Schon seit einer Stunde schickten sie sich Nachrichten hin und her, es gab ja sonst nichts zu tun. Der Vater schlief auf der Couch seinen Rausch aus, nachdem er ihre Kündigung nur am Rande wahrgenommen hatte. Dass sich bei ihrem Heimkommen dasselbe Bild wie immer bot, ließ Annie restlos resignieren.
Leider