Ein fast perfekter Sommer in St. Agnes. Bettina Reiter

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Ein fast perfekter Sommer in St. Agnes - Bettina Reiter Liebesromanzen in St. Agnes/Cornwall

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ihres Vaters und sah aus wie der Weihnachtsmann. Heute jedoch wie ein braungebrannter, denn er und Beth waren gerade von ihrem Thailand-Urlaub zurückgekehrt.

      Annie mochte diese Abende, weil sogar ihr Dad mehr sprach als sonst. Außerdem gab es jede Menge Süßigkeiten, bei denen sie allerdings schnell zugreifen mussten, weil Minnie ordentlich zulangte. Ihr Bauch war ähnlich groß wie der des Großvaters, der sich angeregt mit Harold unterhielt. Dessen Antiquitätenladen befand sich direkt neben Minnies Souvenirgeschäft am Town Hill.

      Nachdem die Gäste versorgt waren, holte die Mutter ihr erstes selbstgemaltes Aquarell-Bild, um es mit gespanntem Blick zu präsentieren. Alle klatschten begeistert und überhäuften sie mit Komplimenten. Nur Annies Dad lächelte müde, während er an seiner Zigarette zog.

      Die Mutter stellte ein wenig betrübt das Bild beiseite und machte sich am Plattenspieler zu schaffen. Als die ersten Töne erklangen, drehte sie sich erwartungsvoll zu ihm um und fuhr sich glättend über das gelbe ärmellose Kittelkleid, das sie oft trug. „Wie lange ist es jetzt her, Joseph? Drei, vier Jahre?“ Ein verträumter Ausdruck lag in ihrem Gesicht. Das war immer so, wenn sie sich die Lieder der Band Chicago anhörte. „Erinnerst du dich? Im Greek Theatre hat die Luft förmlich gebrannt. Es war ein wundervolles Konzert in Los Angeles.“ Vor einigen Jahren waren sie extra dorthin geflogen und hatten gleichzeitig ein paar Tage Urlaub gemacht. Seitdem hörte die Mutter ihre Lieblingslieder rauf und runter. Will you still love me – das gerade lief – und Hard to Say I`m sorry. Annie konnte die Texte inzwischen fehlerfrei mitsingen. Da sollte Mrs. Wilde noch einmal sagen, sie könne sich nichts merken! „Tanz mit mir, Joseph“, bat die Mutter und nahm seine Hände, um ihn zu sich hochzuziehen. Annies Dad schüttelte den Kopf und blieb hartnäckig sitzen. Enttäuscht ließ sie ihn los und setzte sich neben Minnie, die ihr aufmunternd zulächelte. Annies Mom zuckte die Schultern und wirkte nicht mehr so fröhlich wie zuvor. Um neun schickte sie Annie schließlich ins Bett. Sandy war bereits schlafen gegangen, weil sie über Bauchschmerzen geklagt hatte. Vermutlich zu viel Süßes, mutmaßten die Erwachsenen.

      Kaum im Bett schlief Annie sofort ein, wurde aber irgendwann durch ein Geräusch munter. Es war fast stockfinster im Zimmer. Nur die Straßenlaternen des Dorfes waren schemenhaft durch die luftigen Vorhänge zu erkennen. Von unten erklang leises Murmeln. Da, schon wieder! Annie horchte angestrengt, bis ihr bewusst wurde, dass ihre Schwester im angrenzenden Zimmer weinte. Schnell sprang sie aus dem Bett, lief zu ihr hinüber und schaltete das Licht ein. Sandy lag im Bett, die Decke halb auf dem Boden. Das Haar war nass, als würde sie fürchterlich schwitzen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht blickte sie Annie an und hielt sich die Hände an den Bauch. Immer wieder krümmte sie sich zusammen.

      „Was ist mit dir?“, rief Annie aus, die sich hilflos fühlte. Gleichzeitig kroch Angst in ihr hoch.

      „Mein Bauch tut so weh. Hol bitte Mom und Dad!“

      Annie nickte und lief panisch nach unten, wo ihre Eltern nach wie vor mit der Clique im Wohnzimmer zusammensaßen. Kaum zu Ende gesprochen hasteten ihre Mom und ihr Dad nach oben. Annies Grandpa folgte ihnen. Dann ging alles ganz schnell. Im Nu war ein Krankenwagen da. Zeitgleich verließ die Clique das Haus. Kurz danach brachen ihre Eltern zum Krankenhaus auf. Nur Annies Großvater blieb da, an den sich Annie die ganze Zeit über weinend klammerte. Irgendwann schlief sie schließlich erschöpft an seiner Brust ein. Bis sie neuerlich aus dem Schlaf gerissen wurde. Als Erstes nahm sie den schnellen Herzschlag ihres Grandpas wahr, der in ihrem Ohr pulsierte. Seine Arme, die sie förmlich an ihn pressten. Das schnelle Atmen, als bekäme er kaum Luft. Annie löste sich von ihm und bemerkte ihre Mom, die am Türrahmen lehnte. Wachsbleich und weinend. Ihr Dad stand daneben. Mit rotgeweinten Augen. Er hob die Hand, als ob er ihre Mutter streicheln wollte. Sie machte eine abwehrende Geste, bevor sie schluchzend nach oben lief …

      1. Kapitel

       Mitte April 2016, 19 Jahre später

Grafik 3

      „Willst du dich ins Grab trinken, Dad? Dann mach nur so weiter!“ Annie stand zitternd vor ihrem Vater, der mit unbeteiligtem Blick in seinem Fernsehstuhl saß. Vor ihm auf dem Glastisch standen leere Bierflaschen und eine halbvolle Schnapsflasche. Zornig zog Annie ihre Jeansjacke mit den bunten Buttons am Revers aus, warf sie auf den ovalen Esstisch nahe der Küchentür und stellte sich demonstrativ vor ihn hin.

      „Geh mir aus dem Bild“, lallte er und machte eine Bewegung, als würde er eine lästige Fliege verscheuchen wollen. „Und verschone mich mit deinen Vorwürfen.“

      „Ist das der Dank dafür, dass ich deinetwegen meine Zukunftspläne aufgegeben habe?“, erboste sich Annie und machte keine Anstalten, seiner Aufforderung nachzukommen. „Hast du eigentlich irgendeine Ahnung, wie sehr ich darunter leide? Seitdem ich ein kleines Mädchen war, habe ich davon geträumt, Großvaters Geschäft weiterzuführen. Jetzt stehe ich vor dem Nichts und muss zusehen, wie ich unseren Lebensunterhalt bestreite.“

      „Keiner hat gesagt, dass du das tun musst.“

      „Ach ja? Wer von uns beiden hat denn horrende Schulden gemacht?“

      „Du kannst jederzeit gehen, wenn es dir nicht passt.“

      „Sicher“, erwiderte Annie höhnisch, „und kaum bin ich fort, rufst du mich wieder an und drohst damit, dich umzubringen.“

      „Meine Art von Humor solltest du inzwischen kennen.“

      „Das ist nicht witzig, Dad!“ Sein Anblick war kaum zu ertragen. Abgemagert saß er vor ihr und wirkte dem Tod näher als dem Leben. Die grauen Haare waren fettig und hatten schon lange keinen Friseur mehr gesehen. Ein ungepflegter Bart wucherte am Kinn und an den Wangen, die braunen Augen lagen in tiefen Höhlen, die Tränensäcke quollen hervor und tiefe Falten hatten sich in sein Gesicht gegraben. Noch dazu stank er meilenweit gegen den Wind nach billigem Schnaps. Als wäre seine Alkoholsucht nicht genug, rauchte er wie ein Schlot. Auch jetzt hätte man die Luft im Wohnzimmer schneiden können und wie üblich schwammen aufgeweichte Stumpen in der halbvollen Kaffeetasse vor sich hin. „Reiß dich endlich zusammen, Dad!“, herrschte Annie ihn an, weil sie dieses Dahinvegetieren nicht mehr aushielt. „Ich hätte auch jeden erdenklichen Grund zu trinken, aber mache ich es? Nein! Weil Alkohol nicht die Lösung ist, sondern ein weiteres Problem. Eins, das alles nur verschlimmert.“

      „Die Menschen sind verschieden.“ Er neigte sich etwas zur Seite. „Außerdem ist dieses Scheißleben im Suff leichter zu ertragen. Und jetzt lass mich gefälligst in Ruhe. Ich will den Film schauen.“

      Annie wandte sich zum Fernseher um und blickte auf die heile Welt, die über den Bildschirm flimmerte. Rosamunde Pilcher. Früher hatte der Vater nie verstanden, warum Annies Mutter so für diese Romanzen schwärmte. Seitdem sie nicht mehr da war, schien er anders zu denken und versäumte keinen einzigen Film.

      „So kann es nicht weitergehen, Dad“, sagte Annie leise, als sie ihn wieder in Augenschein nahm. Wie üblich reagierte er nicht und sie war es leid, ihm ständig ins Gewissen reden zu müssen. Deshalb verzog sie sich in die Küche und bereitete das Abendessen vor. Spiegelei mit Spinat. Ein dürftiges Essen, doch leider mussten sie jeden Cent umdrehen. Zwar hatte sie zwei Putzjobs, aber der Verdienst war lediglich ein müdes Lächeln wert, weil kaum etwas übrigblieb. Immerhin musste sie die Wettschulden des Vaters abstottern, der zu allem Überfluss das Wenige versoff, das sie mühsam verdiente. Nicht, dass er Zugang zum Konto gehabt hätte oder hier in St. Agnes irgendwo etwas zu trinken bekam, trotzdem schaffte er es immer wieder, den Karren noch tiefer in den Dreck zu ziehen, denn wetten konnte man auch übers Internet. Deswegen versteckte sie das Modem neuerdings jeden Tag, sodass ihm

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