Ein fast perfekter Sommer in St. Agnes. Bettina Reiter
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Leider ging der Wahnsinn weiter, denn das winzige Bad hätte ohne weiteres als Dixi-Klo durchgehen können. Die weißen Standardfliesen waren ein Mekka für Schimmel und überall lagen Haare. Die Klospülung war ein Witz, denn die paar Tropfen beförderten höchstens eine tote Mücke in den Abfluss. Eine Klobürste gab es nicht, genauso wenig wie einen Duschvorhang. Das Waschbecken brach beinahe aus der Verankerung und der Spiegel war voller Schlieren.
Plötzlich hatte Jack das Gefühl zu ersticken, riss die Balkontür auf und trat hinaus. Mit skeptischem Blick auf den knarrenden Holzboden und in Gedanken bei seiner Arbeit, die unter keinem guten Stern begann. Dabei hatte er alles minuziös geplant und müsste sein erstes Geschäft bereits unter Dach und Fach haben. Hoffentlich sprang Hermes Winter nicht ab, dessen Villa er kaufen wollte, um sie anschließend abreißen zu lassen. Das Grundstück war ein optimaler Standort für ein Luxushotel. Danach waren Büro- und teure Wohnkomplexe an der Reihe, je höher desto besser. Dazu würde er in St. Agnes leerstehende Gebäude aufkaufen, wofür sie in Amerika bereits eine Liste erstellt hatten. Darunter auch das kleine Geschäft an der Küstenstraße, in dem ein Casino entstehen sollte. Auf dieses Projekt freute er sich besonders.
Jack spürte ein Kribbeln im Bauch. Wie immer, wenn er vor neuen Herausforderungen stand. Ja, so liefen lukrative Geschäfte ab. Man erwarb günstigen Besitz und stampfte ein Luxusgebäude nach dem anderen aus dem Boden. Ein paar VIPs, die sich den Urlaub teuer bezahlen ließen, einige Events und schon hatte man einen Hot Spot wie London, Cannes oder Kitzbühel. Dadurch schnellten die Grundstückspreise in die Höhe und letztendlich fuhr ihre Firma satte Gewinne ein, sobald sie die Liegenschaften wieder verkauften. Auch in Wales und Yorkshire hatten sie ähnliche Projekte ins Auge gefasst. Aber eins nach dem anderen. Zuerst war St. Agnes dran und es wäre doch gelacht, wenn man aus diesem popligen Dörfchen keine Goldgrube machen könnte!
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Annie starrte auf das keltische Grabkreuz und dachte an die zwei Menschen, die hier ihre letzte Ruhe gefunden hatten. Ihr Grandpa und Sandy. Sie starb an einem Blinddarmdurchbruch – noch in derselben Nacht, als man sie ins Krankenhaus einlieferte. Ihr Grandpa hatte es ihr gesagt. Er war es auch gewesen, der sie fest in seinen Armen hielt, weil sie wild um sich geschlagen hatte. Zu unglaublich war es gewesen, dass ihre Schwester nie wieder kommen würde. Fort war. Für immer. In den Tagen danach hatte sie dennoch im Schuppen auf sie gewartet. Stundenlang, denn dort lehnte ihr Surfbrett. Auch in Sandys Zimmer schlich sie sich oft in der Nacht, zog ihren Lieblingspyjama an und legte sich in ihr Bett. Einmal hatte die Mutter sie dabei erwischt und einen hysterischen Anfall bekommen. Damals wusste Annie nicht, weshalb. Heute war ihr klar, dass es ein Schock für ihre Mom gewesen sein musste. Als wäre Sandy zurückgekehrt.
Es war schwierig gewesen, damit umzugehen. Für sie alle, denn die Mutter schaffte es anfangs nicht, Annie den nötigen Halt zu geben. Ihr Dad war ohnehin nie ein Mann vieler Worte gewesen. Irgendwann kehrte jedoch der Alltag wieder ein und mittlerweile erinnerte sich Annie an die schönen Dinge. An den Spaß, den sie bei den traditionellen Festen gehabt hatten. Ob beim Bolster Festival, dem St. Agnes Victorian Street Fayre oder dem Fest der Heiligen Agnes. Auch jedes einzelne Muschelglas war noch da. So wie in Sandys Kinderzimmer alles unverändert blieb, die immer ein Teil von ihr sein würde. Einer, der Annie gleichzeitig fehlte. Besonders an Tagen wie diesen vermisste sie ihre Schwester schrecklich. Ebenso wie ihren Grandpa, der vor neun Jahren an Krebs starb. Nun hatte Annie sein altes Geschäftshaus alleine geerbt. Leider war es in keinem guten Zustand und ziemlich renovierungsbedürftig. Aber ihr fehlten inzwischen die Mittel, um sich dem anzunehmen, obwohl sie seit Jahren jeden Cent beiseitegelegt und sogar an den Wochenenden gekellnert hatte. Leider war alles den Wettschulden zum Opfer gefallen und als hätte das Pech bei ihr angedockt, verlor sie vor kurzem sogar ihren Job bei einem Juwelier, da dieser Konkurs anmeldete. Weil der Arbeitsmarkt in St. Agnes derzeit nicht viel hergab, hatte sie in ihrer Not zwei Putzjobs angenommen. Nicht gerade ihr Traum, aber sie musste nehmen, was sie kriegen konnte, denn das Geschäft des Großvaters diente als Sicherheit für den Kredit, der sich derzeit auf über zwanzigtausend Pfund belief. Ihr Erspartes war nur ein Tropfen auf dem heißen Stein gewesen. Weit hatte sie es wirklich nicht gebracht und gab ein trauriges Bild ab. Eine neunundzwanzigjähre Schmuckdesignerin, die putzen ging, statt das Lebenswerk des Großvaters weiterzuführen.
Seufzend blickte Annie hoch. Von hier aus konnte sie die Trevaunance Bucht sehen. Auch ihr Elternhaus auf der Anhöhe und das Cottage ihres Grandpas, das mittlerweile andere Eigentümer hatte. Ihre Mom verkaufte es, um sich damit den Start in Amerika zu finanzieren. Jeremy war anfangs ziemlich sauer gewesen, da er sehr an seinem Elternhaus hing. Ihr Onkel konnte jedoch nichts dagegen tun, weil er bereits als junger Student sein Erbe ausbezahlt bekam. Und da er ein Diener Gottes war, hatte er sich mit der Mutter längst ausgesöhnt.
Einige Kinder spielten vor dem ehemaligen Cottage ihres Großvaters, das im Abendrot lag. Wie die wilden Klippen und das Meer. Der übliche Wind herrschte vor und gab Annie das Gefühl, wieder frei atmen zu können. Im Elternhaus hatte sie es nicht mehr ausgehalten, da ihr Vater nach dem Abendessen weitertrank. Als sie ihm das Bier wegnehmen wollte, beschimpfte er sie, weshalb sie die Flucht ergriff. Mit dem alten Damenrad ihrer Mutter war sie losgefahren und fand sich am Friedhof wieder. Ein Ort, an dem sie die Ruhe fand, die sie so dringend brauchte. Nie zuvor hatte sie sich jedoch mehr gewünscht, Sandy oder ihren Grandpa bei sich zu haben. Die Situation wuchs ihr allmählich über den Kopf. Nicht nur finanziell, vor allem die Eskapaden des Vaters setzten ihr zu. Zum ersten Mal sehnte sie sich weit weg von St. Agnes oder danach, auf einem der Schiffe zu sein, die weit draußen wie kleine Punkte im Wasser trieben.
Andererseits lebte sie gern hier an der Nordküste Cornwalls. Die Grafschaft konnte herrisch sein, mild und rau, still und voller Geheimnisse – aber vor allem war Cornwall malerisch. Besonders im Spätsommer. Diese Jahreszeit liebte Annie am meisten. Lebhafte bunte Farben beherrschten die Küste und das Hinterland. Das Meer wurde stürmischer, die Luft klarer. Das Licht schien anders. Der Himmel intensiver, das Meer tiefgründiger. Herrliche Heide- und Stechginsterteppiche färbten die Plateaus gelb-violett. Cornwall und vor allem St. Agnes waren unvergleichlich, trotzdem war sie unglücklich.
Mit Tränen in den Augen bückte sich Annie und ordnete die Tulpen in der Vase, die sie unterwegs vom Blumenladen mitgenommen hatte. Eine Weile starrte sie abwesend auf die blassrosa Blüten, bis sie sich erhob und zum Fahrrad ging, das sie vorhin an die Bank gelehnt hatte. Zwar hatte sie keine Lust nach Hause zu fahren, aber bald würde es dunkel werden und davor graute ihr. So beschaulich St. Agnes war, vor Übergriffen konnte man nirgends sicher sein. Allerdings schrieb Annie ihre Angst eher dem Umstand zu, dass sie sich ständig Medical Detectives im Fernsehen anschaute. Eine Serie über Morde und deren Aufklärung.
Mit Gänsehaut stieg Annie auf das beige Rad, dessen Lenker sie mit einigen Glitzersteinen verziert hatte, und schob es zur Straße hinauf. Nachdem sie aufgestiegen war, radelte sie los. Ein kurzer, steiler Anstieg, der sie heftig keuchen ließ. Wieder nahm sie sich vor, mehr Sport zu treiben. Als die Straße abschüssiger wurde, vergaß sie den Vorsatz sofort und fuhr an den kleinen Läden und Cafés vorbei. Einige Menschen standen auf den Gehsteigen, die ihr zuwinkten. Man kannte sich in diesem kleinen Küstendorf, das an die siebentausendsechshundert Einwohner hatte und an der Hauptstraße zwischen Perranporth und Redruth lag.
„Annie-Schätzchen, so spät noch unterwegs?“ Hermes winkte ihr zu, der gerade aus dem Melodys kam. Das Café war sein Stammlokal.
„Ich bin auf dem Nachhauseweg“, erklärte sie und bremste ab, als sie ihn erreicht hatte. „Und du? Hast du dich mit der Clique getroffen?“
„Erraten.“ Hermes lächelte.
„Und jetzt suchst du deine Rentiere, um heimzukommen, Santa Claus?“,