Ein fast perfekter Sommer in St. Agnes. Bettina Reiter
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Читать онлайн книгу Ein fast perfekter Sommer in St. Agnes - Bettina Reiter страница 10
„Ich kann alles erklären“, stammelte Annie, obwohl sie sich keinen Reim darauf machen konnte, weshalb er so aufgebracht war. „Ähm, was genau …“
„Erspar mir die faulen Ausreden“, fuhr Harry ihr über den Mund, als er vor ihr stand. Dabei schnappte er nach Luft und stemmte die Hände in die breiten Hüften. „Ich habe alles von meinem Büro aus gesehen. Du hast Mister Flatleys Limousine beschädigt.“
„Das haben die Dame und ich bereits besprochen.“ Der Mann schaute Annie kurz an. „Wir müssen lediglich die Formalitäten klären.“
„Womit wir schon zwei wären“, stieß Harry in dieselbe Kerbe. „In fünf Minuten bei mir im Büro, Annie. Dann kannst du deine Papiere abholen. Den ausstehenden Lohn überweise ich dir selbstverständlich. Ich bin ja kein Unmensch.“
„Soll das heißen, dass du mich … feuerst?“ Annie hatte das Gefühl, als würde sich der Boden unter ihr wie ein breiter schwarzer Schlund öffnen.
„Richtig, und zwar hochkant. Mister Flatley ist nicht irgendwer und ein Verhalten wie dieses dulde ich nicht unter meinen Angestellten. Man hat dein Keifen bis in die Lobby gehört.“
„Ist ein Rauswurf nicht etwas übertrieben?“, sprang ausgerechnet Flatley für Annie in die Bresche, die ihn überrascht anschaute. Er indes konzentrierte sich voll und ganz auf Harry. „Die Sache ist kaum der Rede wert und ich war bestimmt nicht leiser als die junge Dame.“
„Aber Sie arbeiten im Gegensatz zu Annie nicht für mich“, wurde er von Harry belehrt. „Es bleibt bei der Kündigung. Außerdem muss ich ohnehin Personal einsparen und …“
„… da kommt dir das ganz gelegen, nicht wahr?“, unterbrach Annie ihn.
„Ich bin nicht bei der Wohlfahrt und muss selbst zusehen, wo ich bleibe. Also, Rapport in fünf Minuten“, wiederholte Harry und zog ab.
Ungläubig starrte Annie ihm nach und fühlte sich wie gelähmt. Dann zerrte sie neuerlich am Schlüssel. Zum Teufel mit den Papieren! Sie wollte einfach nur weg. Sollte Harry ihr den ganzen Kram schicken, da sie keine zehn Pferde in sein Büro bringen würden. Dieser Arsch hatte mit Sicherheit vor, ihre Situation bis zur letzten Sekunde auszukosten, um sich wieder einmal zu profilieren. Nein, erniedrigen lassen musste sie sich nicht. Das hatte er ohnehin schon genug getan!
„Sie finden sicher etwas Neues“, vernahm sie Flatley.
Annie warf ihm einen wütenden Blick zu. „Ersparen Sie mir diese dummen Floskeln!“
„Schon gut. Dann finden Sie eben nichts Neues.“
Sie kämpfte gegen die Tränen an. „Nur Ihretwegen bin ich in dieser beschissenen Lage! Vielen Dank auch.“ Es war ungerecht, das war ihr bewusst, aber sie konnte nicht anders. Weil dieser Mann alles zu haben schien, sie hingegen weniger als nichts. Diese Welt war einfach nicht gerecht. Außerdem hatte der Streit mit Flatley den Stein ins Rollen gebracht, den Harry ihr nun rücksichtslos an den Kopf geworfen hatte. Obwohl ihr klar war, dass ihr ehemaliger Chef nur auf einen passenden Moment gewartet hatte. Für so einen Mann wollte sie ohnehin nicht mehr arbeiten, obwohl der Lohn an allen Ecken und Enden fehlen würde. Zahlte sie die Raten nicht pünktlich, käme das Geschäft des Großvaters unter den Hammer. Allein der Gedanke daran trieb ihr neuerlich Tränen in die Augen. „Dieser verdammte Schlüssel!“, schimpfte sie mit weinerlicher Stimme. Zuerst ließ er sich nicht umdrehen, jetzt nicht mehr herausziehen.
„So wird das nichts“, stellte Flatley fest und berührte sie sanft am Arm. „Lassen Sie mich das machen.“ Annie zögerte, bevor sie einen Schritt zur Seite trat. Kurz darauf hatte er den Schlüssel herausgezogen und gab ihn ihr. Dabei berührten sich ihre Hände. „Ich bin übrigens Jack Flatley und den Schaden lasse ich auf meine Kosten regulieren.“
„Das … das ist sehr nett, Mister Flatley“, stotterte Annie völlig überrumpelt von seinem Entgegenkommen.
„Kein Problem. Ich spende dauernd an Bedürftige und kann die Summe abschreiben.“
Bedürftige? So wirkte sie also auf ihn? Ob er irgendeine Ahnung hatte, wie beschämend das für sie war? „Um ehrlich zu sein“, begann Annie mit frostiger Stimme, „hätte ich nicht gewusst, wie ich den Schaden bezahlen soll. Insofern bin ich Ihnen sehr dankbar, auch wenn ich nicht danach aussehe. Trotz allem habe ich meinen Stolz und arbeite hart, um mein Leben zu bestreiten. Davon haben Menschen wie Sie jedoch keine Ahnung, die Spende und steuerlich absetzen in einem Atemzug nennen. Und wenn ich mir einen kleinen Rat erlauben darf: Stecken Sie nicht jeden in eine Schublade, egal, welches Auto er fährt.“
„Tun Sie das nicht auch?“ Sein Lächeln verwirrte sie. „Alles Gute für Sie … Annie.“
Sie blickten sich an. Der Wind spielte mit seinem Haar, das ihm in die Stirn fiel. Er strich es zurück und als er nach dem Handy griff, straffte Annie die Schultern.
„Ihnen auch, Mister Flatley.“ Ein letzter Blickwechsel, dann stieg sie ins Auto und preschte Sekunden später mit Vollgas vom Parkplatz. Das hieß bei ihrem Alfa von 0 auf 20 und das erlaubte einen etwas längeren Blick in den Rückspiegel. Flatley stand unbeweglich da und schaute ihr nach, bis sie um die Kurve verschwunden war. So übel schien er gar nicht zu sein, obwohl er alles dafür tat, dass man es nicht bemerkte.
♥
Eine Stunde später saß Annie in der St. Materiana’s Kirche. Früher war sie mit ihren Eltern und Sandy oft zum Sonntagsgottesdienst gekommen. Doch nach ihrem Tod gehörte diese Tradition ebenfalls der Vergangenheit an. Trotzdem empfand sie Trost, weil der Weihrauch-Duft so viel Vertrautes hatte. Die Heiligenbilder mit den kitschigen goldenen Rahmen, die bunten Glasfenster, das große Kruzifix nahe dem Altar oder die Bank, auf der Sandy und sie mit einer Nagelfeile ihre Initialen eingeritzt hatten. „Was willst du mir noch antun, Gott?“, flüsterte Annie und hörte auf einmal Schritte hinter sich.
„Was für ein seltener Anblick. Du in meinem Gotteshaus?“, hallte es durch das Gemäuer, bevor Jeremy die Bank erreicht hatte. Obwohl Annie ihren Onkel liebte, fühlte sie sich von ihm gestört. Mürrisch rückte sie zur Seite.
Laut schnaufend nahm Jeremy neben ihr Platz. Dabei knarrte die Bank, weil er ein stattliches Gewicht hatte. „Du siehst erbärmlich aus. Geht es deinem Vater schlechter?“
Immer dieselben Fragen, als gäbe es keinen anderen Inhalt in ihrem Leben. Aber gab es den tatsächlich? „Ich habe soeben meinen Job verloren“, platzte sie mit der Neuigkeit heraus und weinte wieder, obwohl sie das nicht wollte. Erst recht nicht den Weinkrampf, der sich einstellte, da Jeremy sie in die Arme nahm und sanft wiegte. Eine väterliche Geste, die unheimlich guttat. So saßen sie eine Weile da, bis sich Annie von ihm löste.
„Es geht schon wieder“, behauptete sie. „Eigentlich sollte ich daran gewöhnt sein, dass mein Leben eine einzige Pechsträhne ist.“ Sie hörte sich nach Selbstmitleid an und ja, momentan tat sie sich verdammt leid!
„Daran sollte sich niemand gewöhnen müssen“, dementierte Jeremy, der in seiner Freizeitkleidung – den blauen Shorts und einem türkisen T-Shirt – eher wie ein Tourist wirkte. Aber heute war Mittwoch und da pflegte er fischen zu gehen. Deswegen umwehte ihn ein strenger Geruch, was Annie jedoch nicht störte. Zu wenig gab es inzwischen, das ihr noch vertraut war.
„Möchtest du mir alles erzählen?“, fragte er in mitfühlendem Ton und lächelte aufmunternd. Ihr Onkel hatte fülliges