Ein fast perfekter Winter in St. Agnes. Bettina Reiter
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Читать онлайн книгу Ein fast perfekter Winter in St. Agnes - Bettina Reiter страница 23
Emma erhaschte gerade noch einen Blick auf den Mann, der beinahe fluchtartig das Lokal verließ. Dabei erfasste sie ein eigentümliches Gefühl, weil er dieselbe Frisur trug wie der Unbekannte in London. Klopfte ihr Herz deswegen so schnell? Oder lag es an der Aufregung und ihrer Angst vor der eigenen Courage? Es hatte sie immense Überwindung gekostet, alleine das Lokal zu betreten, in dem so viele fremde Menschen saßen. Gleichzeitig fragte sie sich, ob sich ihr Vater unter ihnen befand.
„Emma?“, rief sich Josie in ihr Gedächtnis zurück. „Roger Sanders mag zwar gut aussehen, aber der ist nichts für dich. Außerdem hast du ja deinen Reddy, nicht wahr?“
„Wer ist Roger Sanders?“ Emma löste ihren Blick von der Tür.
„Der Mann, dem du nachgestarrt hast wie einer Erscheinung. Sicher, er sieht gut aus, doch wenn Sanders eine Frau wäre, würde man ihn als Flittchen bezeichnen. Der Typ hat mehr Herzen gebrochen, als wir Einwohner haben. Sei also auf der Hut. Ob vergeben oder nicht, der brät jede an.“
„Ach so“, erwiderte Emma. „Keine Sorge, von Männern habe ich die Nase gründlich voll.“ Wieso hörte ihr Herz nicht damit auf, wie verrückt gegen die Brust zu hämmern? Bloß, weil dieser Sanders dem Unbekannten ähnlich sah? Dabei hatte sie andere Probleme.
„Oh je“, bedauerte Josie. „Habt ihr gestritten?“
„Wer?“ Emma erwiderte das Lächeln der älteren Frau, die sich in ihr Badetuch mit dem Schottenmuster hüllte. Sie wirkte sehr nett. Wie alle hier, die munter miteinander plauderten und gemeinsam lachten.
„Na, du und Reddy.“ Josie schien sich zu fragen, ob Emma eins und eins zusammenzählen konnte. „Du hast gesagt, dass du von Männern die Schnauze voll hast. Das kann nur bedeuten, dass ihr Streit habt. Also kein Doppelzimmer? Zumindest vorerst? Andererseits ist heute Weihnachten. Die Zeit der Versöhnung. Ihr solltet essen gehen. Wir haben tolle Lokale in St. Agnes. Ich könnte Reddy ein paar Tipps für einen romantischen Abend geben. Wo ist dein Freund eigentlich?“
Plötzlich musste Emma schmunzeln. Josie hatte sie gründlich missverstanden. „Reddy geht ungern in Lokale und ehrlich gesagt ist es mir ganz recht, wenn er draußen wartet. Würde ich ihn mitnehmen, wäre im Nu die Polizei da.“
Josie musterte sie wie eine Sphinx. Oder so, als säße sie vor einem spannenden Thriller. „Wird er per Haftbefehl gesucht?“ Verschwörerisch beugte sie sich näher. Genau wie ihre Freundin. „Taucht ihr in St. Agnes unter? Gut, wir sind ein ziemlich verschwiegener Haufen, aber ehrliche Leute. Könnte schwierig werden für euch. Auf der anderen Seite wärt ihr bei Doris gut aufgehoben. Zumindest für die nächsten Tage. Ihr Haus liegt ziemlich einsam.“
„Hat sie einen Parkplatz?“ Emma hatte Mühe, nicht laut loszulachen.
„Wegen dem Fluchtauto?“ Josie starrte sie mit großen Augen an.
„Nein, für Reddy“, konnte Emma nicht mehr länger die Unwissende spielen. „So heißt nämlich mein VW-Käfer.“
Mit verengten Augen starrte Josie sie an. Man sah förmlich, wie es hinter ihrer Stirn arbeitete, bis sie auf einmal zu lachen begann. Schallend wie ihre Freundin. „Das ist ja …“, stammelte sie prustend und wischte sich die Tränen weg, „ein Käfer!“
Auch Emma lachte mit, bis ihr selbst die Tränen kamen. Es tat so gut, fröhlich zu sein. Etwas Positives zu erleben und plötzlich war sie mittendrin in dieser Gemeinschaft, weil Josie lautstark das Missverständnis vor allen wiederholte. Die Menschen bogen sich vor Lachen, während ihr eine heiße Schokolade gebracht wurde, die sie nicht bestellt hatte.
„Lass sie dir schmecken“, rief ihr die ältere Frau zu, als sich alle beruhigt hatten. „Ich bin übrigens Minnie und der Kauz neben mir ist mein Mann Duncan.“ Kurz himmelte sie den Genannten an und zeigte dann auf die zwei, die ihr gegenübersaßen und sich zu Emma umdrehten. „Das sind Rose und Joseph.“
„Hermes und Trijn“, stellte sich ein anderes Paar vor, das eng umschlungen dasaß.
„Ricardo“, rief der südländisch wirkende Mann schräg gegenüber im blauen Neoprenanzug. Emma musterte ihn. Wie jeden Mann, der sich nach ihm mit diesem Anfangsbuchstaben vorstellte.
„Sally“, meldete sich schließlich Josies Freundin zu Wort. Erneut wurde Emma ein Lächeln zuteil, die von der Offenheit dieser Menschen überwältigt war. Leider hielt die Freude nur kurz.
Nach wie vor hatte sie keine Ahnung, wie sie ihren Dad finden sollte. Natürlich könnte sie ihre Geschichte erzählen. Wie im Fernsehen, wenn Menschen nach Angehörigen suchten. Aber mit welchem Ergebnis? Ihre Mom hatte erwähnt, dass ihr Vater gebunden gewesen war. Gut möglich, dass sie mit ihrer Suche eine Ehe zerstörte. Den Kindern ihre bis dahin glückliche Familie nahm, die sie als Halbschwester vermutlich in die Wüste schicken würden. Nein, sie musste auf anderen Wegen seine Identität herausfinden und im besten Fall würde er trotz der vielen Jahre an Silvester bei der Mine sein. Aus sentimentalen Gründen. Oder weil er an sein Kind denken wollte, das ihm dort am nächsten war. Ein irrsinniger Gedanke, trotzdem ließ Emma ihn zu. Obwohl sie Angst vor der Begegnung hatte. Keiner konnte sagen, wie er zu ihr stand. Gut möglich, dass er nichts mit ihr zu tun haben wollte oder gar nicht mehr lebte. All das schob sie aber vorerst in den hintersten Winkel ihres Herzens. Zunächst musste sie seinen Namen herausfinden. Die berühmte Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Das würde schwierig genug werden.
„Hast du Lust mit uns zu essen?“, erkundigte sich Josie. „Oder wollt ihr alleine sein? Du und Reddy?“ Sie grinste. Eine sympathische Frau, bei der Emma sofort das Gefühl hatte, als würden sie sich schon ewig kennen. Möglicherweise, weil sie Linda in ihrer Art sehr ähnlich war.
„Reddy und ich sind seit unserer Abreise aus London zusammen. Ich denke, fünf Stunden reichen“, ging Emma auf den Spaß ein. „Wenn ich nicht störe, würde ich gern mit euch essen. Ich habe ohnehin Hunger.“ Das anschließende Mittagessen war herrlich. Emma gönnte sich Cornish Pasties. Dazu tranken sie einen leichten Apfelwein aus der Region und waren im Nu in ein Gespräch vertieft. Josie erzählte aus ihrem Leben in Penzance und auf humorvolle Weise von ihrem Mann George und den drei Kindern. Nebenbei sang sie fast eine Lobeshymne auf ihre Nanny und zeigte sich begeistert darüber, dass sie wieder in ihrem Heimatdorf St. Agnes wohnte. Auch der Name Annie fiel einige Male. Josies beste Freundin, der dieser Sanders übel mitgespielt hatte. Seltsam, wie viele Parallelen es zum Unbekannten in London gab.
Sally beteiligte sich ebenfalls an ihrer Unterhaltung, die etwas trockener war als Josie, trotzdem nicht weniger nett. Einzelheiten aus ihrem Leben ratterte sie herunter, als würde sie ein Telefonbuch vorlesen, doch als sie von ihrem Porzellan- und dem Tätowiergeschäft erzählte, begannen ihre Augen zu glänzen. „Wenn du Lust hast, komm vorbei“, bot sie an. „Was hat dich eigentlich nach St. Agnes verschlagen?“
Die Frage kam unvermittelt. Emma rutschte in ihrem Stuhl hin und her. „Ich … ähm … brauche dringend eine Auszeit, weil ich vor einigen Tagen meinen Job verloren habe“, zog sie sich aus der Affäre.
„Das tut mir leid.“ Josie schaute sie bedauernd an. „Vor allem die Tatsache, dass ich nach Hause muss. Ausgerechnet jetzt. Aber melde dich