Ein fast perfekter Winter in St. Agnes. Bettina Reiter
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„Ich habe aber heute Geburtstag!“, begehrte Emma auf und ließ den Löffel los, der dumpf auf dem Tisch aufschlug. „Kim und Tiff kriegen jedes Jahr etwas. Warum ich nicht?“
„Du und deine dumme Eifersucht“, fuhr die Mutter auf. „Was ist schon ein Geburtstag? Außerdem gibt es nichts, worüber du dich beklagen könntest. Wir tun alles für euch, also hör auf so undankbar zu sein und nimm dir ein Beispiel an deinen Schwestern. Die dramatisieren nicht laufend jede Kleinigkeit. Vielleicht solltest du deine Nase nicht ständig in Bücher stecken. Das Leben ist nämlich keine deiner Fantasiewelten. Davon abgesehen ist dein Dad ohnehin sauer, dass du mir ständig das Leben schwer machst. Also reiß dich gefälligst zusammen. Es gibt Menschen, die wirkliche Probleme haben.“
Damit ließ die Mutter sie allein. Emma starrte auf die Suppe, in die hin und wieder eine Träne platschte. Sie hasste Kartoffelsuppe. Vor allem hasste sie Weihnachten, weil dieses blöde Fest an allem schuld war. Aber Hauptsache, dieser Jesus wurde von allen gefeiert. Da kamen sogar drei Könige mit Geschenken vorbei. Blöder Geburtstag!
Missmutig trug Emma den vollen Teller in die Küche und sah die Mutter wegfahren. Das Funkeln der Eiche war erloschen. Schiefergrau hing der Himmel über dem Baum. Unzählige Schneeflocken wirbelten herab. Emma wünschte sich eine von ihnen zu sein. Irgendwann tauten sie und verschwanden für immer. Als wären sie nie da gewesen. Genauso fühlte sie sich. Als wäre sie nicht vorhanden. Deshalb würde es keinen interessieren, wenn sie die Hausaufgaben nicht machte. Wieso sollte sie? Trotz guter Noten lobte der Vater ständig ihre Schwestern. Sogar Tiff, die in Mathe eine Niete und in Deutsch eine Doppelniete war. Trotzdem bekam sie vorne und hinten alles hineingestopft. Da musste sogar Kim manchmal zurückstecken, was Emma jedoch nicht leidtat. Wenn es darauf ankam, stand die jüngste der Familie stets auf Tiffs Seite.
„Hast du deine Hausaufgaben gemacht?“, war das erste, das Emma auch heute von ihrem Dad hörte, als er mit ihren Schwestern zur Tür hereinkam. Tiffs und Kims Wangen waren gerötet. Sie rochen nach frischer Luft und etwas Süßem. Kandierte Äpfel? „Sag schon.“ Er zog sich die Jacke aus und hängte sie an die Garderobe.
„Ja, habe ich“, schwindelte Emma. Die waren garantiert eislaufen gewesen!
„Hol die Schlittschuhe aus dem Auto“, bat der Vater Kim, als hätte er Emmas Gegenwart bereits vergessen, die sich bestätigt fühlte. Verletzt und traurig. Ständig unternahmen sie etwas ohne sie. Nur wenn ihre Mutter dabei war, fuhren sie manchmal mit der ganzen Familie aus.
„Alles Gute zum Geburtstag“, wisperte Kim im Vorbeigehen. So leise, als hätte sie Angst, dass es irgendjemand mitbekommen könnte. Lächelnd schaute Emma ihr nach, bis ihr Blick auf Tiff fiel, die Kim erst aus den Augen ließ, nachdem die Haustür hinter ihr zugefallen war.
„Was hat sie zu dir gesagt?“, wollte Tiff prompt wissen, die einen nagelneuen Wintermantel trug. Himmelblau, mit abgesteppten Nähten und Goldknöpfen. Den hatte Emma vor einiger Zeit auf dem Weg zur Schule in einem Schaufenster gesehen. Leider hatte sie sich förmlich die Nase am Glas plattgedrückt, was Tiff nicht entgangen war. Jetzt lief sie damit herum, während Emma wie üblich in die Röhre schaute.
„Das geht dich nichts an“, antwortete Emma.
„Sag mal, wie redest du mit deiner Schwester?“ Ihr Vater hob drohend den Zeigefinger. „Sie hat dir eine einfache Frage gestellt. Statt höflich zu antworten, fährst du sie an. Du hast eine Woche Hausarrest.“ Triumphierend stand Tiff da, die sich den Mantel aufknöpfte. Emma hätte ihr die Goldknöpfe am liebsten einzeln ausgerissen. Mitsamt ihrem blonden Engelshaar. „Nicht schon wieder!“, schimpfte ihr Dad erneut. Unterschwellig war Musik zu hören. Wie jeden Tag um diese Zeit. Ihre alte Nachbarin Mrs. Bing hörte eine Stunde lang dasselbe Lied. Bei weit geöffnetem Fenster. Sommer wie Winter. „Irgendwann flippe ich aus! Ich kann dieses My Way nicht mehr hören.“ Er ging ins Wohnzimmer.
„Was hast du eigentlich zum Geburtstag bekommen?“ Tiff schälte sich aus ihrem Mantel und grinste. „Oh je, ich habe völlig vergessen, dass du jedes Jahr leer ausgehst.“
Ihr Spott tat weh, obwohl Emma längst daran gewöhnt sein müsste. „Lass mich in Ruhe.“
„Gern. Du bist sowieso eine blöde Kuh. Keiner mag dich. An deiner Stelle würde ich abhauen. Mom und Dad wären bestimmt froh darüber.“
Emma ließ den Kopf hängen. Es war immer dasselbe. Tiff schaffte es, sie zum Weinen zu bringen. Oder so weit, dass sie kein Wort mehr herausbrachte. Im Grunde hatte sie ja recht. Niemandem würde sie fehlen.
Ein Gedanke, der Emma durch ihre gesamte Kindheit begleitete. Sie blieb ein Fremdkörper in dieser Familie und fragte sich mit zunehmendem Alter, ob sie adoptiert worden war. Wer wusste es schon? Doch den Mumm, direkt nachzufragen, hatte sie nicht. Sonst würde es erneut heißen, dass sie aus allem ein Problem machte. Außerdem war ihr Vater mit den Jahren zunehmend weniger zuhause, wodurch sie nicht ständig seiner Nörgelei ausgesetzt war.
Mit einer kleinen Konditorei in London hatte seine kometenhafte Karriere begonnen. Als Emma zwölf war, besaß er bereits zig Filialen in ganz Großbritannien. Wenn er müde heimkam, zog er sich meistens in sein Büro unter dem Dach zurück und wollte nichts von den Problemen hören, mit denen sich die Mutter herumschlagen musste. Selbstredend, dass meistens Emma der Stein des Anstoßes war. Tiff ließ sich nämlich immer wildere Geschichten einfallen, um ihr den schwarzen Peter zuzuschieben. Nicht selten erfand sie sogar Sachen, um sie vor den Eltern in Ungnade fallen zu lassen. Wie unter anderem die dreiste Lüge, dass Emma Drogen nehmen würde. Ihr Vater war außer sich gewesen, der um seinen guten Ruf fürchtete. Nichts hasste er mehr als negative Publicity. Natürlich hatte Emma die haltlose Beschuldigung dementiert. Mit dem Ergebnis, dass ihr Vater sie das schwarze Schaf der Familie nannte. Sie war es wohl auch und wurde allmählich schweigsamer, bis sie sich überhaupt nicht mehr zur Wehr setzte.
Als Jugendliche flüchtete sie sich deshalb oft zu ihrer Tante Camilla, die eine Bücherei besaß. Die Schwester ihres Dads war nett, weshalb Emma mit sechzehn bei ihr im Laden jobbte. Manchmal kam ihre Mutter vorbei, um sich ein Buch zu kaufen. Bei dieser Gelegenheit erteilte sie der Tante oft Ratschläge. Insbesondere, wie sie sich endlich den Mann fürs Leben angeln oder das Geschäft modernisieren könnte. Dabei war es gerade das altwürdige Ambiente der Bücherei, das Emma über alles liebte. Ihrer Tante ging es scheinbar ähnlich, die nichts Wesentliches änderte und mit einer Engelsgeduld darüber hinweg sah, wenn sich Emmas Mom besonders an Weihnachten über zu viel Dekoration im Buchladen mokierte.
In dieser Angelegenheit waren sich Emma und ihre Mom ausnahmsweise einig. Wer brauchte Weihnachten? Kein Mensch! Selbstredend, dass die Geschichte Wie der Grinch Weihnachten gestohlen hat von Kindesbeinen an zu ihren Lieblingsbüchern gehörte. Oft las sie ihrem Bären namens Grinch daraus vor. Diese Zeiten waren zwar vorbei, die Abneigung blieb. Insbesondere, da es im Buchladen überall glitzerte und funkelte. Wo war eine Müllhalde, wenn man sie brauchte? Und dann dieses Gedudel. Ob beim Einkaufen oder in den Straßen, überall wurde Weihnachten besungen. Kitschiger ging es nicht mehr! Dennoch war ihre Tante mittendrin statt nur dabei. Sie, die ansonsten lieber Bücher für sich sprechen ließ und unter dem Jahr auf jeglichen Ramsch verzichtete.
Gelinde gesagt zeigte sich ihre Tante entsetzt, als sie hinter Emmas Anti-Weihnachts-Haltung kam. Vermutlich drängte sie ihr deswegen eine rote Kugel mit einer Masche auf. Angeblich die erste, die sie sich von ihrem selbstverdienten Geld gekauft hatte. Mit den Worten: „Es kommt der Tag, an dem du den Zauber von Weihnachten fühlen wirst“, überreichte sie Emma das geschmacklose Ding. Nur mit Mühe widerstand diese dem Drang, die Kugel augenblicklich fallen zu lassen. Ob es an Camillas feierlicher Miene lag? Am sentimentalen