Ein fast perfekter Winter in St. Agnes. Bettina Reiter
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Читать онлайн книгу Ein fast perfekter Winter in St. Agnes - Bettina Reiter страница 7
„Hauptsache praktisch.“ Ein Lächeln glitt über sein bis dahin ernstes Gesicht. „Man kann nicht ständig wie aus dem Ei gepellt aussehen.“
Prompt überkam Emma wieder das heulende Elend. „Danke für das Kompliment.“ Sie wandte sich der Stadt zu und hörte, dass er näher kam. Vielleicht mit einem Messer in der erhobenen Hand … nun jagte doch ein kalter Schauer über ihren Rücken.
„So war das nicht gemeint“, versicherte er, als er sich in einigem Abstand ans Eisengeländer lehnte. „Äußerlichkeiten sind nicht alles.“
„Und das aus dem Mund eines Mannes.“ Emma genehmigte sich erneut ein paar Schlucke, ehe sie ihm die Flasche hinhielt. „Möchten Sie auch?“
„Nein, danke. Ich bleibe lieber nüchtern.“
Emma riskierte einen längeren Blick zu ihm. „Klingt, als hätten Sie eine harte Zeit hinter sich.“
„Kann man so sagen“, murmelte der Unbekannte. „Ich habe einiges falsch gemacht in meinem Leben. Und gerade, als ich alles richtig machen wollte, hat es mir das Schicksal so richtig gezeigt.“ Er lachte leise. „Hört sich extrem nach Selbstmitleid an, nicht wahr?“
„Manchmal darf man sich selbst bemitleiden, glauben Sie mir.“ Plötzlich läutete ihr Handy. Emma stellte die Flasche ab und zog ihr weißes Mobiltelefon aufgeregt aus der Manteltasche. Auf dem blau leuchtenden Display zeigte sich Brandons Name. Mit zitternden Fingern nahm sie den Anruf entgegen. „Hallo?“
„Hi, ich bin es. Du hast versucht mich zu erreichen. Ist etwas passiert?“
„Ich wollte nur wissen, wann du zurückkommst“, stammelte Emma und verschob ein klärendes Gespräch. Morgen war auch noch ein Tag und sie wollte ihm dabei in die Augen sehen. Außerdem war sie nicht allein. Kurz schielte sie zum Unbekannten und drehte ihm den Rücken zu. „Liebst du mich, Brandon?“, flüsterte sie in das Handy.
„Natürlich, was für eine Frage“, versicherte er zu ihrer Erleichterung. „Leider war ich bis vor zehn Minuten in einem Meeting. Harte Sache, kann ich nur sagen und …“ Brandons Stimme trat auf einmal in den Hintergrund. Dafür schallte die unverkennbare Melodie von Big Ben umso lauter aus dem Hörer und danach folgte der Glockenschlag zur vollen Stunde. Es war ein Uhr nachts, doch Emma fühlte sich, als wäre die Zeit soeben stehengeblieben. Brandon war tatsächlich in London und die harte Sache konnte sie sich lebhaft vorstellen!
„Wo … wo bist du nochmal genau?“, fragte sie mit letzter Kraft.
„In Liverpool, das weißt du doch“, kam es unsicher zurück. Er schien seinen fatalen Fehler selbst bemerkt zu haben! „Leider werde ich es morgen nicht schaffen. Wir haben jede Menge zu tun.“ Wie dreist er weiterlog!
Emma hatte tausend Schimpfwörter auf der Zunge. Statt sie ins Telefon zu brüllen, unterbrach sie die Verbindung und ließ das Handy sinken. Tränen brannten in ihren Augen, als sie auf die Stadt blickte. Dorthin, wo Linda lebte und sich Brandon gerade mit irgendeinem Flittchen amüsierte. Dieser Schweinehund!
„Schlechte Nachrichten?“, brachte sich der Unbekannte in ihr Gedächtnis zurück.
Emma steckte das Handy in die Manteltasche zurück. Dass Brandon nicht einmal zurückrief zeigte ihr, wie fern sie sich bereits waren. „Wenn ein Mann behauptet, er sei geschäftlich in Liverpool und hält sich stattdessen in London auf, welchen Schluss ziehen Sie daraus?“
„Dass er Sie betrügt“, kam die umgehende Antwort.
„Danke für Ihre Ehrlichkeit.“
„Ich zähle nur eins und eins zusammen.“ Er schwieg kurz. „Ihr Freund?“
„Mein Ehemann.“ Emma griff nach der Flasche und trank ausgiebig. Aber um sich zu betäuben, würde sie Hochprozentigeres brauchen. „Sind Sie aus London?“ Fest umklammerte sie die Flasche und unterdrückte ein Rülpsen. Scheiß Kohlensäure. Scheiß Brandon!
„Nein. Ich wollte mir ein paar schöne Tage machen.“
„Hat super geklappt“, zog sie seine Aussage ins Lächerliche, obwohl sie das nicht wollte. „Sie stehen hier oben mit einer Frau, die Lust hat, sich sinnlos zu besaufen. Nebenbei lädt sie ihren ganzen Frust bei Ihnen ab und hat keine Hemmungen, Sie vom Dach zu stoßen, weil sie zu einer Gattung gehören, von der sie die Nase gestrichen voll hat.“
„Tja, insofern haben sich die zwei Richtigen getroffen“, konterte er. „Frauen können mir ebenfalls gestohlen bleiben. Also halten Sie sich gut fest. Womöglich stürzen Sie vor mir in die Tiefe.“
„Darauf trinke ich.“ Emma hob die Flasche in die Höhe, dann rieselte das Kribbelwasser ihre Kehle hinunter. Allmählich spürte sie, wie sich ein warmes Gefühl in ihr ausbreitete und sich die Stadt verzerrte. Vielleicht reichte der Sekt doch? „Sind Sie mit dem Auto da?“, kam ihr plötzlich eine Idee, während sie sich die Flasche an die Brust drückte.
„Ja, warum fragen Sie?“
„Leihen Sie es mir?“, bat Emma.
„Bestimmt nicht. Sie haben getrunken.“
„Dann fahren Sie mich. Ich zahle natürlich.“
Der Unbekannte begradigte sich. „Wollen Sie zu ihm?“
Emma nickte und fuhr sich tastend über den Dutt. „Ich brauche Gewissheit“, flüsterte sie. „Und muss mit eigenen Augen sehen, dass es so ist. Sonst erzählt er mir wer-weiß-was und ich dumme Pute wäre imstande ihm zu glauben. Weil ich leider Gottes so gemacht bin. Bloß keine Konfrontation, immer schön kuschen, um die Harmonie nicht zu zerstören. Dabei sollte ich endlich aufwachen. Immerhin musste ich bisher auf die harte Tour lernen, dass das Gute nicht immer siegt, so wie die Hoffnung manchmal schon gestorben ist, bevor man sie fühlt.“
Er räusperte sich. „Ich will mich nicht in Ihr Leben einmischen, aber gelegentlich sollte man eine Nacht darüber schlafen, um klarer zu sehen.“
„Irrtum. Manches wird selbst nach tausend Stunden Schlaf nicht klarer.“ Emmas Schultern sanken herab. „Wollen oder können Sie mir nicht helfen?“
„Wir kennen uns erst seit zehn Minuten! Haben Sie keine Freunde?“
„Natürlich, aber sehen Sie einen von ihnen?“, keifte Emma. „Momentan sind Sie mein einziger und könnten ruhig für mich da sein.“
Ein genervtes Seufzen war die Antwort. „Wissen Sie denn, wo er ist?“, schob er wenig begeistert nach.
„Ich nicht. Jemand anders schon …“
„Ich fühle mich, als würden wir einen Verbrecher observieren“, offenbarte der Unbekannte, nachdem sie unweit vor dem Noblesse-Hotel geparkt hatten. Die Scheiben seines blauen Hondas waren angelaufen. Dank des Gebläses, das auf Hochtouren lief, hatten sie jedoch bald klare Sicht.
„Das tun wir ja auch“, antwortete Emma abwesend. „Wir observieren meinen zukünftigen Ex-Mann und Verbrecher der übelsten Sorte.“ Sie hielt die inzwischen leere Sektflasche fest, als wäre sie ein Rettungsanker.