Ein fast perfekter Winter in St. Agnes. Bettina Reiter

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Ein fast perfekter Winter in St. Agnes - Bettina Reiter Liebesromanzen in St. Agnes/Cornwall

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pfiff Linda durch die strahlend weißen Zähne. „Das aus dem Mund der Frau, die freie Tage und Urlaube bisher für Gerüchte hielt. Ich finde es toll, dass du einige Dinge in deinem Leben änderst.“

      „Eine Krankmeldung ist keine große Veränderung.“

      „In deinem Fall schon.“ Linda zupfte mit Blick in den Spiegel an ein paar Haarsträhnen herum. „Tiff wird im Dreieck springen. Wie bedauerlich, dass ich das nicht live sehen kann! Deine Schwester war früher übrigens auch eine Schnecke, wegen dem Schleim und so.“ Kurz lachte Linda auf, bevor sich neuerlich ein verträumter Ausdruck in ihr Gesicht schlich. „Was für ein Jammer, dass ich diesen Typen nie kennenlernen werde. Er scheint einiges bei dir bewirkt zu haben.“

      „Wie kommst du darauf, dass der Fremde irgendeinen Einfluss auf mein Leben hätte?“

      „Keine Ahnung, immerhin hast du ihn geküsst.“

      „Er hat mich geküsst.“ Emmas Puls beschleunigte sich.

      „Wie auch immer, es kam zu einem Kuss. Dabei geht dir nichts über Treue. Geschweige denn, dass jeder Verehrer wochenlang warten musste, bis du dich küssen lassen hast.“

      „Brandon hat mit seiner Affäre unsere Ehe beendet. Demnach war ich bei dem Kuss frei wie ein Vogel“, fühlte sich Emma dazu genötigt, sich zu verteidigen. „Aber bin ich wirklich so … so …“ Sie suchte nach dem passenden Wort. „Spießig? Langweilig?“

      „Ein romantischer Spaziergang“, Linda schien plötzlich in anderen Sphären zu schweben, „ein Dinner bei der Imbissbude … Schneegestöber … sogar vor Brandon nahm er dich in Schutz. Ich sage nur: Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“, hauchte sie den Titel ihres gemeinsamen Weihnachts-Lieblingsfilms, den sie sich seit über zehn Jahren inklusive Grant bei Linda anschauten.

      „Der Unbekannte ist kein Prinz und ich nicht das Aschenputtel“, saugte Emma jegliche Romantik aus ihrer Unterhaltung. So gradlinig Linda ansonsten war, bei der Liebe setzte regelmäßig ihr Verstand aus.

      „Nein, das bist du nicht“, wurde ihre Freundin ernst. „Aber du verhüllst dich, wie du ständig deine Gefühle versteckst. Im Glauben, dass du dieses oder jenes nicht verdienen würdest. Und klar, du hast keine böse Stiefmutter, trotzdem führst du ein ähnliches Schattendasein wie unser allseits geschätztes Aschenputtel. Von der Arbeit ganz zu schweigen, die Tiff dir aufs Auge drückt. Du schuftest tausendmal härter als sie und kriegst einen Hungerlohn. Wie ihr Gehalt aussieht, will ich mir gar nicht vorstellen. Dabei bist du das Zugpferd der Konditorei. Deine Eclairs sind der Hammer und zählen zu Londons Geheimtipp.“

      „Jetzt übertreib mal nicht“, wurde Emma verlegen.

      „Siehst du?“ Strafend blickte Linda sie an. „Du kannst nicht einmal Komplimente annehmen. Dabei stimmt es. Nicht umsonst nennt man dich die Zauberin der Carnaby Street.“

      Natürlich war Emma diese Bezeichnung zu Ohren gekommen und insgeheim schmeichelte sie ihr sehr. Ein schöner Lohn für die harte Arbeit, das ständige Weiterbilden und die Kreativität, fortwährend neue Backrezepte aus dem Hut zu zaubern. „Ich wünschte, Dad könnte das genauso sehen“, beklagte sich Emma, die sich voller Bitterkeit fragte, wie ihr Vater wohl auf die Trennung von Brandon reagieren würde. Vermutlich mit dem Satz, dass er ohnehin immer gewusst hatte, dass diese Ehe nicht lange halten würde. „Genug lamentiert. Jetzt rufe ich im Geschäft an, bevor ich mir einen Anwalt suche.“

      „Lieber eine Anwältin“, riet Linda, als sie sich erhob. Der edle Stoff ihres schwarzen Hosenanzuges glänzte im Schein des Tageslichtes, das durch die Panoramafenster fiel. „Frauen kämpfen mit härteren Bandagen, weil sie solidarisch mit uns sind. Also, Süße, mach es dir gemütlich. Du kannst so lange bleiben wie du willst. Wir sehen uns abends.“

      Fünf Minuten später war Emma alleine im erlesen eingerichteten Appartement. Linda war Produkt-Managerin und verdiente gut, weswegen sie sich sowohl die Lage an der Themse als auch teure Möbel leisten konnte. Beruflich hatte ihre Freundin alles erreicht, privat fiel das Resümee leider traurig aus. Seit über sechs Jahren war sie Single nach einer überaus glücklichen Ehe, die der Tod von einer Sekunde auf die andere beendet hatte. Ihr Mann Willy starb bei einer Rafting-Tour. Er hatte die Strömung unterschätzt. Es dauerte lange, bis Linda über diesen unfassbaren Schicksalsschlag hinwegkam. Sofern sie das je schaffen würde.

      Seufzend erhob sich Emma und räumte den Tisch ab. Nachdem sie die Küche sauber gemacht hatte, wählte sie die offizielle Geschäftsnummer. Wie erhofft hob eine der Servicekräfte ab, die förmlich nach Luft schnappte, als sich Emma krankmeldete. Tiff würde tatsächlich toben, das war so sicher wie das Amen im Gebet. Allerdings öffnete es ihrer Schwester vielleicht die Augen darüber, was sie Tag für Tag leistete.

      Nach einer ausgiebigen Dusche schlüpfte Emma in die Jogginghose und das weiße T-Shirt. Linda hatte ihr beides auf die Waschmaschine gelegt. Nach einem kurzen Blick in den beleuchteten Spiegel ging sie ins Wohnzimmer zurück, griff zum Handy und googelte nach einer Anwältin. Eine stach ihr sofort ins Auge: Ruth Hart-Divorce. Ein ziemlich vielversprechender Name. Hastig speicherte sie Namen und Nummer in ihr Handy ein und starrte anschließend auf die Zahlen.

      Das war es also mit ihrer Ehe. Vorerst auch mit den Plänen, Kinder zu haben. Eine Familie zu gründen. Nichts hatte sie sich in den letzten Jahren sehnlicher gewünscht. Leider hatte es nicht geklappt - wobei das aufgrund des mangelnden Sexes kein Wunder war. Auf der anderen Seite musste sie nach dem Fiasko mit Brandon froh darüber sein. Bei einer Scheidung wären Kinder die Leidtragenden und so gesehen hatte es das Schicksal schon richtiggemacht. Ihre Zeit würde kommen. Irgendwann. Denn noch hatte sie den Glauben an die wahre Liebe nicht verloren. Vielleicht wäre es so, wenn der Fremde nicht ihren Weg gekreuzt hätte, dessen Kuss sie noch jetzt auf ihren Lippen zu spüren glaubte.

Grafik 27

      Die Dämmerung brach bereits herein, als Roger seinen Honda über die Küstenstraße lenkte. Fast alle Eigenheime waren weihnachtlich geschmückt. Vor vielen standen die obligatorischen Bäumchen, die jedes Jahr von den freiwilligen Helfern ab November verteilt und aufgestellt wurden. Auch für die bunten Lichter entlang der Hauptstraßen sorgten sie. Bei manchen Häusern wurden sogar alte oder neue Fotos von St. Agnes und der Umgebung festlich in Szene gesetzt. Eines der größten Bilder befand sich auf der Stirnseite des Heimes, das man als Erstes sah, wenn man in St. Agnes ankam.

      Ankommen. Ein Wort, das in Roger nachklang. Tat er es denn? Jetzt, da er aus London zurück war, stellte sich die Frage, ob ihn etwas in St. Agnes hielt. Sicher, er hatte einen guten Job und einen netten Freundeskreis. Aber sonst?

      Im Grunde ließ es sich hier gut leben. Ein Paradies, in dem andere Menschen Urlaub machten. Von den vielen Touristinnen ganz zu schweigen, die ihm einige angenehme Stunden bereitet hatten. Die Auswahl war so groß wie die Zahl der einsamen Herzen, die es in ihr idyllisches Küstendörfchen verschlug. Doch sich mit Frauen und Alkohol zu betäuben hatte irgendwann seinen Sinn verloren. Bloß weil ihm Trish so übel mitspielte, hätte er beinahe sein Leben weggeworfen. Dabei war es diese Frau nicht im Geringsten wert!

      Roger verscheuchte ihr Bild. Die Erinnerung an sie. Stattdessen blickte er zu Annies Schmuckladen, an dem er vorbeifuhr. In den Schaufenstern glitzerte Lametta und einige Kugeln hingen an Schnüren herab. Die versilberten Äpfel auf dem Baum glänzten im Schein der Lichterkette, die sich über die Fassade, um die Äste und den Stamm wand. Wie es Annie wohl ging? Vermutlich tausendmal besser als ihm. Angeblich war sie mit Jack und Leni in New York. Eine Aushilfe kümmerte sich in den Wintermonaten um das Geschäft.

      Annie hatte das große Los gezogen und er

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