Ein fast perfekter Winter in St. Agnes. Bettina Reiter
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Ein fast perfekter Winter in St. Agnes - Bettina Reiter страница 9
„Soll ich Sie nach Hause bringen?“, erkundigte sich der Unbekannte mit sanfter Stimme.
„Ich habe kein Zuhause mehr.“ Emma setzte sich in Bewegung. Ahnungslos darüber, wohin sie gehen sollte. „Danke, dass Sie mich hergebracht haben.“ Auf einmal strauchelte sie und spürte seine kräftigen Arme, die ihre Schultern umfingen. Kurz blickten sie sich an, bevor er sie losließ.
„Mein Magen knurrt“, murmelte er. „Sollen wir etwas essen gehen?“
„Ist das Ihr Ernst?“ Sie betastete unter Tränen ihren Dutt. „Eigentlich müssten Sie froh sein, mich loszuwerden. Ich stehe kurz vor einem Heulkrampf und mitten in den Scherben meines Lebens. Wollen Sie sich das wirklich antun?“
„Wieso nicht? Sie sind momentan genauso einsam wie ich“, erwiderte er. „Deshalb wäre ich ziemlich dumm, wenn ich Sie gehen ließe, Sherlock. Also, sind Sie dabei?“
Kurz danach aßen sie einen Burger bei einem Imbiss-Stand. Einige dunkle Gestalten lungerten unweit davon herum. Alleine hätte sich Emma gefürchtet, doch die Gegenwart des Unbekannten nahm ihr jegliche Angst. Er hatte eine Aura, die beruhigend wie einschüchternd wirkte. Nebenbei verfügte dieser Mann über einen gesegneten Appetit. Nach zwei Minuten war sein Burger Geschichte. Im Gegensatz zu Emmas, die dem Fremden schließlich ihren angebissenen reichte, den er nur zu gerne aß. Nachdem Emma schluchzend ein großes Glas Cola getrunken hatte, fühlte sie sich allmählich ernüchtert - in jeglicher Hinsicht. Leider katapultierte sie das umgehend in eine noch rauere Wirklichkeit zurück, die sich anfühlte, als würde jemand mit kalten Nadeln über ihre Haut fahren. Nun war sie wieder Single und auf sich alleine gestellt. Das machte ihr eine Heidenangst. Von dem Vertrauensbruch ganz zu schweigen und Brandons Feststellung, wie wenig feminin sie wirkte. Sicher, es war nicht ganz aus der Luft gegriffen, trotzdem schmerzte es. Insbesondere die Tatsache, dass sie ständig als letzte Wahl abgestempelt wurde.
Abwesend blickte Emma auf eine Gruppe junger Frauen, die an ihnen vorbeiging. Als eine von ihnen dem Unbekannten verheißungsvolle Blicke zuwarf, konzentrierte sie sich jedoch auf ihr Gegenüber. „Sie erinnern mich an jemand“, stellte Emma bei genauerer Betrachtung fest und wurde sich bewusst, dass er sogar im flackernden Neonlicht ziemlich attraktiv war mit dem blonden Haar, den hellblauen Augen, dem markanten Gesicht und der energischen Nase. Der schätzungsweise Fünftagesbart machte ihn noch männlicher als ohnehin. Allerdings erinnerte er an einen Sonnyboy, an dem sich eine Frau bestimmt die Finger verbrennen würde. Er vernaschte bestimmt eine nach der anderen, wie in einem Selbstbedienungsladen. Aber Emma musste zugeben, dass er eine sehr nette Art hatte.
„Lassen Sie mich raten, an wen ich Sie erinnere“, meinte er mit sauertöpfischer Miene. „Brad Pitt?“ Er wischte sich mit der Serviette über den Mund, nachdem er den Pappteller von sich geschoben hatte, auf dem ausgequetschte Ketchup-Päckchen lagen.
„Normalerweise würde ich Sie spätestens jetzt für ziemlich arrogant halten“, beanstandete Emma, „allerdings ist der Vergleich nicht schlecht. Doch den meine ich nicht.“
„Gut. Bei mir zuhause wird das nämlich ständig behauptet. Ich kann es nicht mehr hören.“
„Fühlen Sie sich etwa nicht geschmeichelt?“
Er zerknüllte die Serviette und warf sie auf den Pappteller. „Sie haben ja keine Ahnung.“ Sein spöttisches Lächeln hatte was. „Also: Sie machen mich neugierig. An wen erinnere ich Sie?“
„Jetzt weiß ich es“, rief Emma aus, „an Rúrik Gíslason.“
„Wer soll das sein?“ Er wirkte nicht gerade glücklich. „Eine Comic-Figur?“
„Ein isländischer Fußballer.“
„Sie interessieren sich für Fußball?“ Wieder dieses spöttische Lächeln!
„So ähnlich“, räumte sie verlegen ein. „Manche Spieler fallen einem regelrecht ins Auge und entgegen Brandons Behauptung nehme ich dann und wann durchaus eine Modezeitschrift in die Hand.“ Nur die Erwähnung seines Namens stieß ihr das Cola sauer auf.
„Sie erinnern mich übrigens auch an jemand“, behauptete der Unbekannte.
„Lassen Sie mich raten“, tat es ihm Emma nach und versuchte ein ähnliches Gesicht zu machen wie er zuvor. Allerdings bedurfte es wenig Mühe, weil sie an Brandons Vorwürfe denken musste. War sie tatsächlich so unsexy? „An die Filmfigur Bridget Jones?“
Sein Lachen hatte etwas Ansteckendes. „Weit daneben. Ich würde sagen …“ Er studierte sie so intensiv, dass ihr heiß wurde. Das war bestimmt die nächste Nachwirkung vom Sekt! „Sandra Bullock. Dieselben rehbraunen Augen, eine ähnliche Haarfarbe und Sie haben dieses verschmitzte Etwas.“
„Damit kann ich gut leben“, stellte Emma erfreut fest. Ob dieser Mann ehrlich war oder nicht, sein Kompliment tat gut. Ebenso wie das anschließende Schlendern durch die Straßen. Sie sprachen kein Wort. Trotzdem war es kein angespanntes Schweigen. Die Stille tat gut wie die frische Luft. Noch dazu waren kaum Menschen unterwegs, obwohl London niemals schlief.
„Möchten Sie eigentlich gar nicht wissen, wie ich heiße?“, fragte er plötzlich, als sie in die Regent Street einbogen und Richtung Piccadilly Circus spazierten.
„Nein“, entschied Emma. „Es ist nett mit Ihnen und scheinbar waren Sie zur rechten Zeit am richtigen Ort. Ein Mann, der aus dem Nichts kam und bald dorthin zurück verschwindet. Ich schätze, wir werden uns nicht wiedersehen.“
„Stimmt. In einigen Stunden breche ich auf.“
Erneut schwiegen sie. Betrachteten die üppige Weihnachtsbeleuchtung, die den Schnee zum Glänzen brachte. Wie eine Sahnehaube lag er auf den Bäumen, Bänken und Zäunen, während der Wind über die Dächer fuhr. Emma hatte das Gefühl, als wären Tage vergangen und nicht wenige Stunden, in denen sich ihre Welt völlig verändert hatte. Als hätte jemand ein T-Shirt umgestülpt und nun musste sie zusehen, wie sie es am besten tragen konnte.
„Haben Sie jemals einer Frau wehgetan?“, erkundigte sich Emma und nagte an ihrer Unterlippe. „Sind Sie verheiratet?“
„Das war ich und ja, es gibt viele, denen ich übel mitgespielt habe.“ Sie ahnte, dass er trotz seiner Aussage an eine bestimmte Frau dachte. „Annie war so eine. Sie ist toll und ich hatte sie gern. Aber das genügt eben nicht auf Dauer.“ Sofort kam ihr Brandon in den Sinn. Nein, gernhaben genügte tatsächlich nicht. „Meine Eltern führten eine ziemlich miese Ehe. Dad hatte ständig andere Frauen, was er gut zu vertuschen wusste. Niemand in unserem kleinen Ort weiß davon und Vater redete mir ständig ein, dass ich lieber mein Leben genießen soll, statt mich zu binden.“ Er seufzte. „Ich ließ es ziemlich krachen, bis ich Annie wiedertraf. Wir wurden ein Paar, doch ich merkte schnell, dass ich für Kompromisse nicht bereit war. Trotz unserer Beziehung zog ich mein Ding durch. Eigentlich ein Indiz dafür, dass es nicht die wahre Liebe ist. Dann begegnete ich Trish und betrog Annie mit ihr.“ Emma empfand sofort Mitleid mit dieser Annie. „Zu meiner Ehrenrettung muss ich allerdings sagen, dass ich wirklich in Trish verschossen war. Dennoch machte ich Annie an meinem Junggesellenabend an, weil ich … ach, lassen wir das. Jedenfalls habe ich Trish geheiratet und kurz danach ließen wir uns wieder scheiden. In den folgenden Monaten stürzte ich mich in zahllose Abenteuer und habe sogar bei der Arbeit getrunken. Bis ich vor kurzem eine Abmahnung erhielt. Jemand hat mich angeschwärzt. Anfangs war ich ziemlich sauer. Mittlerweile bin ich froh darüber, weil es wie ein Weckruf war.“