Ein fast perfekter Winter in St. Agnes. Bettina Reiter

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Ein fast perfekter Winter in St. Agnes - Bettina Reiter Liebesromanzen in St. Agnes/Cornwall

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verabscheute Weihnachten weiterhin mit großer Leidenschaft und zählte mit zunehmendem Alter den Film Der Grinch zu ihren Favoriten. Zumindest die erste Hälfte davon. Dann schaltete sie um. Das Buch hatte sie an ähnlicher Stelle ebenfalls stets weggelegt. Leider ließ sich der sympathische Weihnachtsmuffel in weiterer Folge bekehren. Das würde ihr in diesem Leben sicher nicht passieren!

      Abgesehen von solchen Tiefpunkten gab es auch Höhen. Wenigstens durfte Emma den Beruf ergreifen, den sie erlernen wollte und ließ sich zur Konditorin ausbilden. Ein Wunsch, den sie bereits in jungen Jahren gehegt hatte, da der Vater manchmal die ganze Familie mit in den Laden nahm. Während Kim und Tiff im Gastraum herumtobten, verzog sich Emma meistens in die Küche und schaute den Angestellten über die Schulter. Was sie aus einem Klumpen Teig herstellten, faszinierte sie so sehr, dass sie ihnen nacheifern wollte. Vielleicht spielte die Hoffnung mit, dass ihr Vater stolz sein würde auf sie. Immerhin trat sie als Einzige in seine Fußstapfen. Doch vor anderen Leuten hob er stets Kim hervor, die Ärztin werden wollte. Oder Tiff, die sich für Modedesign interessierte. Emma blieb weiterhin unsichtbar. Ganz so, als wäre sie nie geboren worden. Eine Schneeflocke eben …

      1. Kapitel

       19. Dezember 2017, London, 22 Jahre später

Grafik 4

      Emma war völlig nassgeschwitzt, obwohl das beschlagene Fenster in der Backstube sperrangelweit offen stand. Hin und wieder verirrten sich Schneeflocken herein und tauten auf dem glänzenden Edelstahl der hypermodernen Gastronomieküche, die mit den besten Geräten ausgestattet war. Allein die Spülmaschine hatte ein Heidengeld gekostet, die just in diesem Augenblick piepste.

      Seufzend warf sie den Lappen neben das verkrustete Backblech und öffnete die Maschine. Heißer Dampf quoll ihr entgegen. Ähnlich fühlte sich Emmas Innerstes an, während sie zur alten Bahnhofsuhr blickte, die über der Schwingtür hing. Fast zehn Uhr! Seit knapp vierzehn Stunden arbeitete sie und ein Ende war nicht in Sicht.

      Erschöpft stellte sie sich zum Fenster und machte einen tiefen Atemzug. Dabei glaubte sie den Duft von gebrannten Mandeln wahrzunehmen. Hörte lautes Lachen und fröhliche Stimmen durch die Carnaby Street hallen, in der sich die Konditorei befand. Viele Menschen schlenderten an den hellerleuchteten Schaufenstern vorbei. Zur Weihnachtszeit war das Einkaufsviertel ein Besuchermagnet. Vor allem Touristen wurden mit vorweihnachtlichen Rabatten hergelockt. Von der Dekoration ganz zu schweigen. Wie in einem geschmacklosen Film schwebten riesige Leuchttafeln über der schneebedeckten Straße. Joy, Hope, Love …

      „Hast du nichts zu tun?“, vernahm sie plötzlich die Stimme ihrer Schwester Tiffany.

      Unwillig drehte sich Emma zu ihr um und fror auf einmal. Wie mondän ihre dreiunddreißigjährige Schwester im schwarzen Etuikleid aussah. Als wäre sie einem Filmklassiker entstiegen. Neben ihr konnte man sich nur wie das Aschenputtel fühlen. „Schau dich um und frag mich noch einmal“, piepste Emma. In Tiffs Gegenwart versagte ihr ständig die Stimme. Dabei würde es unheimlich guttun, endlich auf den Tisch zu hauen und ihrer Schwester die Meinung ins perfekt geschminkte Gesicht zu brüllen. Etwas, das sie sich tausendmal vorgestellt und genauso oft verworfen hatte. Im Wissen, dass sie gegen Tiff nur verlieren konnte. „Hast du dir schon Gedanken wegen meiner Arbeitszeit gemacht?“, schob Emma mit dünner Stimme nach. Vor einigen Tagen hatte sie sich nach wochenlangem Anlauf dazu durchgerungen, ihre Schwester um kürzere Arbeitszeiten zu bitten. Sie sah ihren Mann Brandon kaum noch. So konnte es nicht weitergehen, denn ein Privatleben kannte Emma mittlerweile nur vom Hörensagen. „Du weißt schon, wegen Brandon und so.“

      „Da er ständig auf Geschäftsreise ist, wird er dich nicht sonderlich vermissen. Deswegen sollten wir dieses Gespräch vertagen. Wenigstens bis nach den Feiertagen. Du siehst ja selbst, was Tag für Tag los ist. Die Leute rennen uns die Bude ein.“ Tiff blickte in den kleinen Spiegel neben der Schwingtür und fuhr sich ordnend über das hochgesteckte blonde Haar. An ihren Ohren glänzten auffallende Strass-Ohrringe - sofern es Strass war. Von solchen Dingen hatte Emma keine Ahnung. „Ich habe ein Date mit einem Wirtschaftsmogul und mache jetzt Feierabend.“ Mit einem zufriedenen Lächeln auf den rotschimmernden Lippen wandte sie sich Emma zu. „Der Typ ist zwar steinalt, doch sein Geld macht ihn um einiges jünger.“

      „Aber hier steht jede Menge dreckiges Geschirr.“ Emma blickte sich vielsagend in der Backstube um. „Soll ich das wieder alleine spülen?“

      „Die Küche ist dein Ressort“, verkündete Tiff ungerührt und schaute sich auf die rotlackierten spitzen Nägel. Sobald einer abbrach, kreischte sie wie eine Tobsüchtige. Das tat sie ebenso mit den Angestellten und Emma, als wären sie alle reihenweise abgebrochene Nägel. Tiff konnte sich nur schwer beherrschen. Besonders an hektischen Tagen wie diesen. „Allerdings habe ich im Gastraum nicht die ganze Arbeit geschafft. Erledige du den Rest, wenn du schon dabei bist.“ Hoch erhobenen Hauptes eilte Tiff auf ihren schwarzen Stilettos aus der Backstube.

      Emma starrte auf die heftig schwingende Tür. Hörte das pfeifende Geräusch, das sie verursachte und sank auf den Hocker vor dem Arbeitstisch, auf dem ein paar misslungene Marzipan-Rosen lagen. Misslungen. Genauso fühlte sich ihr Leben an.

      Stillschweigend ließ sie alles über sich ergehen. Ob es tatsächlich das Los des typischen Sandwich-Kindes war, dass man ganz unten auf der Liste stand? Sollte sie sich endlich damit abfinden, dass sich daran nie etwas ändern würde? Sie war einfach zu feige, um sich aufzulehnen und würde bis zum bitteren Ende Emma, das Arbeitstier, bleiben. Emma, die Komplizierte. Emma, die es nie so weit bringen würde wie ihre Schwestern.

      Tiff war als Erstgeborene scheinbar etwas Besonderes. Sie führte die Geschäfte, seitdem sich ihr Dad vor einem Jahr zur Ruhe gesetzt hatte. Ausgerechnet ihr vertraute er seine Laden-Kette an. Für Emma unfassbar. All die Jahre hatte sie sich förmlich abgestrampelt und ihr Können unter Beweis gestellt. Aber um den Vater stolz zu machen würden hundert Jahre nicht reichen. Dabei hatte sie im Gegensatz zu Tiff das Geschäft von der Pike auf gelernt. Ihre Schwester war Quereinsteigerin, nachdem sie mit ihrem Haute-Couture Laden in Konkurs ging. Tolle Voraussetzungen, doch der Vater hielt an seiner Entscheidung fest.

      Und Kim? Sie war drei Jahre jünger als Emma, somit das Nesthäkchen der Familie. Ebenfalls ein Status, der ihr vieles in die Wiege gelegt hatte. Sicher, im Gegensatz zu Tiff und ihr hatte sie studiert und arbeitete tatsächlich als Ärztin. Dank ihres beeindruckenden IQ’s durfte sie sogar eine Klasse überspringen. Als wäre das nicht genug, hatte sie sich einen der begehrtesten Londoner Junggesellen geangelt und Dylan vor fünf Jahr geheiratet. Von ihrer Traumhochzeit hatten die Leute lange gesprochen. Ganz zu schweigen von der feudalen Villa, die ihnen Emmas Dad finanzierte.

      Brandon und sie mussten sich das kleine Häuschen in der Nähe ihres Elternhauses dagegen vom Mund absparen. Zwar hatte ihnen der Vater ein klein wenig unter die Arme gegriffen, aber im Vergleich zu ihren Schwestern war die Summe lachhaft gewesen. Nicht, dass es Emma um Geld ging. Letztendlich ließ sich jedoch selbst damit ermessen, wie viel ein Mensch wert war. Im wahrsten Sinne des Wortes. In ihrem Fall hieß das wenig bis gar nichts. Das galt auch für ihre Hochzeit, die sie zwecks Geldmangels nur im engsten Kreis abhalten konnten. Dass ihr Dad sie nicht wie Kim zum Altar führte, hatte sie am meisten getroffen. Ganz zu schweigen davon, dass er beim legendären Ball der Töchter einige Wochen danach den Tochter-Vater-Tanz nur Kim und Tiff zugestand. Als Emma an der Reihe war, klagte er plötzlich über Schmerzen in den Beinen. Eine lapidare Ausrede, wie es in den letzten Jahren oft der Fall gewesen war.

      Mit Tränen in den Augen fuhr sich Emma über die heiße Stirn. Es war verletzend und tat weh. Immer wieder. Wie eine Wunde, die nicht heilen wollte. Leider würden ihre Eltern nie verstehen, wie unfair das war. Wie ungeliebt man sich fühlte, wenn man den Geschwistern dabei zusehen musste,

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