Ein fast perfekter Winter in St. Agnes. Bettina Reiter
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Es war seltsam, zu einem beinahe Wildfremden aufzublicken. Mit ihm in der Kälte zu stehen, die nicht spürbar war. In seine Augen zu schauen, die etwas Geheimnisvolles, aber auch etwas Trauriges hatten. Die Gesichtszüge im sanften Licht des Schaufensters zu erkunden, die das Leben gezeichnet hatte. Seinen Atem auf der Haut zu fühlen und ihm in diesem Augenblick näher zu sein als irgendeinem anderen Menschen auf dieser Welt.
Auf einmal berührte seine Hand ihr Kinn. Emma verlor sich in den unergründlichen Augen. Seine Lippen näherten sich und dann küsste er sie. Sanft und zärtlich. Wie der Flügelschlag eines Schmetterlings. Doch ehe sie reagieren konnte, ließ er sie los und winkte ein Taxi heran, das sofort an den Straßenrand rollte. Zuvorkommend öffnete der Unbekannte die Tür.
„Leben Sie wohl“, raunte er. Mit klopfendem Herzen und leisem Bedauern in sich blickte Emma zu ihm hoch, bevor sie sich ins Taxi setzte. Das Leder knirschte, als sie sich zurücklehnte. „Danke für diesen unvergesslichen Abend, Sherlock.“ Er lächelte.
Die Tür schlug zu. Das Taxi fuhr an. Emma drehte sich um und schaute durch die Heckscheibe. Unbeweglich stand der Mann inmitten des Schneetreibens und sie glaubte, seinen Blick auf sich zu spüren. Kurz erwog sie, den Chauffeur anhalten zu lassen und den Unbekannten nach seinem Namen zu fragen. In der nächsten Sekunde schalt sie sich eine Närrin. Er hatte sie getröstet. Ihr geholfen und sie aus der Laune eines Augenblickes heraus geküsst. Auf den Trümmern ihres Lebens. Die galt es zu beseitigen, statt irgendeinem Zauber hinterherzulaufen, den dieser Abend jedoch zweifelsohne gehabt hatte.
2. Kapitel
„Wie romantisch!“, rief Linda aus, die klirrend ihre Kaffeetasse auf den Unterteller zurückstellte. „Und du hast wirklich keine Ahnung, wer der Typ ist?“
Emma zuckte mit den Achseln. „Nein. Aber dieser Mann ist im Augenblick meine geringste Sorge“, schwindelte sie, obwohl sie ständig an die vergangenen Stunden denken musste. Mitsamt der Frage, ob das tatsächlich passiert war. „Immerhin steht mir eine Scheidung bevor und wenn ich Brandon richtig verstanden habe, gibt es einen Rosenkrieg.“
„Na ja, wie ein Häufchen Elend wirkst du nicht auf mich.“ Linda schob den kleinen runden Spiegel zu sich und griff nach dem Lipgloss neben der Blumenvase mit den Plastikrosen, die ihr Grant vor Jahren zum Geburtstag geschenkt hatte. Die roten Blüten waren vom Sonnenlicht ausgeblichen und staubig wie der Rest ihrer Wohnung. Lindas Perfektion hörte nicht nur am Reißverschluss ihrer Tasche auf, sondern auch an der Türschwelle. Sie war keine geborene Hausfrau und schenkte diesem Teil ihres Lebens nur wenig Aufmerksamkeit. Ganz nach dem Credo: Es wäre schade um die vergeudete Zeit. „Du wirst es schon schaffen.“
„Mir graut bereits jetzt davor“, bekannte Emma. „Allein der Gedanke, dass ich zu einem Anwalt muss. Dabei habe ich mir mein Leben anders vorgestellt.“
„Schätzchen, du hast es dir schöngeredet. Wie so einiges in den vergangenen Jahren.“ Gekonnt zog Linda ihre Lippen nach, die rosafarben schimmerten. Wie die Augenlider und ihre Wangen. Ein hübsches Make-up. Nicht zu viel und nicht zu wenig. Emma kramte in ihrer Erinnerung, wann sie sich selbst zuletzt geschminkt hatte. Es musste beim Abschlussball gewesen sein. Mit dem Ergebnis, dass sie aussah wie nach einem Verkehrsunfall, weshalb sie sich kurzerhand abgeschminkt hatte. „Du hast dich an Brandon festgekrallt, weil du dich seit deiner Kindheit nach Liebe sehntest. Wenn du ehrlich in dich gehst, wirst du feststellen, dass er nicht das Gelbe vom Ei war. Brandon war weder romantisch noch hat er dich auf Händen getragen.“
„So was erlebt man ohnehin nur als Schauspielerin in schnulzigen Filmen.“ Im Nachhinein betrachtet kam die Begegnung mit dem Unbekannten dem ziemlich nahe …
„Wie gesagt: Im Schönreden bist du einsame Spitze.“ Linda legte den Lipgloss neben den Spiegel und griff erneut zur Tasse mit dem Zwiebelmuster und dem Goldrand. Das edle Porzellan gehörte zu einem Service, das sie von ihrer Großmutter geerbt hatte. So wie Linda stets alles bekam, die als Einzelkind aufwachsen durfte. Behütet und umsorgt von ihren Eltern, die am Stadtrand wohnten. „Früher warst du sicher eine Schnecke“, behauptete Linda wenig schmeichelhaft, nippte an der Tasse und stellte sie mit spitzen Fingern wieder zurück. Sie hatte sich gerade die Nägel blau lackiert. „Auch in diesem Leben verziehst du dich meistens in dein Häuschen, aber sobald du dich ungerecht behandelt fühlst, traust du dich kurz heraus. Nur um dich anschließend erneut zu verkriechen und die Scherben mitzunehmen, die du verursacht hast. Im Glauben, dass du wieder einlenken musst. Wie bei deinen Eltern. Harmonie ist aber nicht alles, Emma. Vor allem nicht um jeden Preis. Ein Wunder, dass du nicht schon längst daran kaputtgegangen bist, womit wir wieder bei Brandon wären. Erinnere dich zurück. Damals, als wir jung waren“, stocherte Linda weiter in Emmas Leben herum, „hast du dir oft ausgemalt, wie dein Mann sein müsste. Zärtlich, liebevoll und dass er dir das Gefühl geben sollte, das Wichtigste für ihn zu sein. Was hast du stattdessen gekriegt? Einen Mann, der nach wenigen Monaten auf der Couch herumlungerte und dich nicht einmal mehr vom Dienst abgeholt hat. Kein Hochzeitstag, kein Geburtstagsgeschenk, keine Überraschungen. Du nahmst es hin und hast deine Erwartungen so weit heruntergeschraubt, dass sie mittlerweile irgendwo im Nirgendwo vor sich hinvegetieren.“
Emma zupfte am Croissant herum, das ohnehin krümelte, weil es staubtrocken war. „Brandon hätte sich eine attraktive Frau gewünscht“, ließ sie das Gespräch Revue passieren. „Sexy und verführerisch. Stattdessen hat er Restware bekommen.“
„Brandon hat von Anfang an ein falsches Spiel getrieben“, ließ Linda kein gutes Haar an ihm und innerlich rupfte Emma munter mit, was das Croissant zu spüren bekam. „Wenigstens ist er zum ersten Mal ehrlich gewesen. Allerdings hat er dich nicht im Mindesten verdient, weil Liebe nicht dort aufhört, wo Aussehen und Geld anfangen. Nimm zum Beispiel diesen fremden Typen. Er hat dich geküsst und das bestimmt nicht aus Jux und Tollerei. Es liegt auf der Hand, dass du ihn beeindruckt hast.“
Abrupt verschonte Emma das wehrlose Croissant, fuhr sich durch das offene Haar und schaute an sich herunter. Sie trug immer noch die ausgewaschene Jeans und den weiten grauen Pullover. Der Wintermantel aus grauer Vorzeit hing in Lindas Garderobe, bei der sie um fünf Uhr auf der Matte gestanden hatte. Heulend. „Im Schönreden bist du auch nicht ohne“, meinte Emma und lächelte, was Linda strahlend erwiderte. Eine bessere Freundin als sie gab es nicht. Ohne zu zögern hatte Linda ihr Obdach gegeben, sie in eine warme Decke gehüllt, heiße Schokolade gemacht und nach der ausgiebigen Heul-Arie ein üppiges Frühstück gezaubert. Seit einer Stunde saßen sie nun hier. „Ich habe dich und Grant echt scheiße behandelt“, entschuldigte sich Emma und nahm Lindas Hand, wobei sie darauf achtete, nicht die Nägel zu berühren.
„Das ist längst vergessen.“ Ein sanfter Druck folgte. „War ja auch hart, was ich dir vor die Füße geknallt habe. Allerdings kann ich mich mit dem Ausgang des Abends sehr gut anfreunden. Noch dazu hast du eine Flasche Sekt getrunken. Da fragt man sich schon: Wer bist du und was hast du mit meiner Freundin getan?“
Emma zog grinsend ihre Hand zurück. „Du tust gerade so, als wäre ich eine Heilige.“
„Na, na, wir wollen nicht übertreiben. Allerdings auch nicht untertreiben.“ Linda schaute auf ihre silberne Armbanduhr. „Ich muss allmählich los. Soll ich dich in die Stadt mitnehmen? Dein Dienst beginnt ja ebenfalls gleich.“
„Schon okay“, sagte Emma. „Ich werde mich krankmelden.“ Zwar fühlte sie sich körperlich fit - weil der erwartete Brummschädel ausblieb - trotzdem brauchte sie Zeit für sich. „Ich