Die letzte Seele. Lars Burkart

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Die letzte Seele - Lars Burkart

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gesessen und seine Welt war in Ordnung gewesen, und jetzt, nur Minuten später, musste er mit ansehen, wie sein Leben vor seinen Augen zu Trümmern zerfiel. Hastig drehte er sich um und verließ das Zimmer, wobei er sich immer noch an allem, was er erreichen konnte, festhielt.

      Auf einmal war seine Kehle trocken und rau wie Sandpapier. Er begrüßte dieses Gefühl fast, denn es lenkte ihn ab von den seelischen Schmerzen. Mit jeder Sekunde wurde es unangenehmer, und er befürchtete schon, jämmerlich zu verdursten, wenn er nicht bald etwas zu trinken bekam. Also stürmte er in die Küche, öffnete den Kühlschrank, glotzte hinein und griff schließlich nach dem erstbestem, was ihm in die Finger kam – eine Flasche Cola. Die Kohlensäure kribbelte in seiner Kehle, und er trank gierig. Er spürte Schmerzen wie spitze Dolche hinter seiner Stirn. Es war eindeutig zu kalt, aber er konnte nicht mit dem Trinken aufhören. Das Ziehen und Stechen hinter seiner Stirn wurde stärker, aber es war einfach zu köstlich, fühlte sich zu gut an, um aufzuhören. Leider verging dieses Wohlgefühl schnell, und zurück blieb nur eine quälende, dunkle Leere.

      Paul sah noch einmal in den Kühlschrank. Diesmal wollte er etwas Härteres, etwas, das seine Stimmung hob. Zuerst übersah er es und wollte schon lautstark fluchen. Es war aber auch schwer zu finden – vor allem hinter tonnenweise Pudding und halbleeren Punica-Flaschen. Dann, auf den zweiten Blick, sah er es endlich. Als ob die Flasche Jack Daniels sich vor ihm verstecken könnte, ha, da lachten ja die Hühner! Mit einer einzigen Bewegung war der Verschluss abgeschraubt, die Flasche zum Mund geführt und ein langer Schluck genommen. Obwohl der Whiskey eiskalt war, brannte er im Hals, und als er endlich in seinen Magen schwappte, glaubte er, ein Buschfeuer brodele in ihm. Wärme durchströmte seinen Körper, und bevor sie nachlassen konnte, schüttete er noch etwas hinterher.

      Obwohl er wusste, dass es eine bescheuerte Idee war, wollte er sich hemmungslos besaufen. Er wollte die ganze Flasche trinken. Und, falls er dann noch aufrecht stehen konnte, eine zweite.

      Ohne darüber nachzudenken, was er tat und warum, schlich er durchs Haus. Es war ein großes Haus, zu groß für ihn allein. Aber so war es ja auch nie gedacht gewesen. Sie hatten es damals mit der Absicht bauen lassen, den Kindern Platz zum Spielen zu geben. Jetzt waren sie alle weg: Jeannine, die Kinder. Alle waren verschwunden, und das Haus war ebenso verlassen wie er selbst.

      Die Schritte hallten in den großen Räumen – ein seltsames Geräusch, eines von der Sorte, das nicht hierhergehörte. Hier sollte fröhliches Kinderlachen ertönen, ausgelassenes Quietschen und Kreischen, aber nicht die schlurfenden Schritte eines verlassenen Mannes. Er lief durch das ganze Haus. Überall stieß er auf Splitter, schmerzende Bruchstücke seines Lebens. Seines zerstörten Lebens.

      Der Anblick der großzügigen Küche (Jeannine hatte sie immer als ihr Revier bezeichnet) schmerzte, als würde ihm ein rotglühender Stab ins Herz getrieben werden. Auf dem großen Tisch hatte sie immer das Essen serviert. Sie hatte es geliebt, für ihn zu kochen, und ihm hatte es immer geschmeckt. Wann hatte er ihr das zum letzten Mal gesagt? Er hatte nicht die Spur einer Ahnung.

      Jetzt stand er im Flur, nicht weit vom Schlafzimmer. Wollte er hineingehen? Paul schauerte vor dieser Tollkühnheit. Aber wovor hatte er Angst? Es war doch nur ein Schlafzimmer, das Zimmer, in dem er die Nächte mit Jeannine verbracht hatte. In dem sie sich geliebt hatten, in dem aber auch schon mal die Fetzen geflogen waren. Es war nur ein Zimmer, weiter nichts. Dennoch hatte er mehr als nur Angst vor dem, was ihn dort erwartete.

      Der Raum war dunkel und angenehm kühl. Die Vorhänge waren zugezogen. Eine neue Welle aus Schmerzen sauste heran wie eine Dampflok, zischend und fauchend. Sie warf ihn fast zu Boden. Seine Tränen, schon fast getrocknet, flossen abermals. Sein Herz hämmerte und drohte zu explodieren. Er wollte zurück, wollte den Raum verlassen, zu groß, zu gewaltig waren die Erinnerungen, die auf ihn einstürzten. Aber er biss die Zähne zusammen und blieb.

      Seine Augen durchstreiften das Zimmer. Alles, alles hier erinnerte ihn an den Verlust: Die schneeweißen Gardinen. Sie hatte sie ausgesucht und eigenhändig angebracht. Er erinnerte sich genau. Er hatte ihr helfen wollen, und sie hatte ihn davongejagt wie einen tollwütigen Hund. Ja, so war sie, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. Ist schon komisch, was einem so einfällt, wenn das eigene Leben den Bach runtergeht. Das bequeme Wasserbett, das mitten im Zimmer stand, links und rechts am Kopfende gesäumt von einer künstlichen Palme: Hier hatten sie sich geliebt. Hier war ihre Spielwiese gewesen.

      Langsam näherte er sich dem Bett, wobei er darauf achtete, dem Kleiderschrank nicht zu nahe zu kommen. Dabei fragte er sich, warum seine Türen offen standen. Einen Augenblick später wusste er es: Sie hatte ihre Kleider mitgenommen. Alles. Von den Socken bis zu den T-Shirts, von den Hosen bis zu den innig geliebten Hüten. Sogar den BH, den er ihr vor Jahren geschenkt hatte, der ihr aber viel zu groß war.

      Paul überlegte kurz sinnlos, ob sie eine Tasche bei sich hatte, gab es aber schnell wieder auf, weil er sich beim besten Willen nicht daran erinnern konnte. Mit hängenden Schultern ging er weiter, vorbei an den Zeugen ihrer gemeinsamen Vergangenheit. Plötzlich drehte er sich einmal um seine Achse, und das Zimmer rauschte an ihm vorbei. Dann ein zweites Mal, diesmal schneller. Es war wie ein Rausch, wie das Eintauchen in eine fremde, eigentümliche Welt, wo alle Umrisse zu geisterhaften Schemen verschwammen. Dann verlor er das Gleichgewicht, stürzte der Länge nach aufs Bett und blieb reglos liegen. Die Matratze unter ihm schwippte und schwappte, und er genoss das Gefühl des Treibens. Er dachte an das letzte Mal, als sie miteinander geschlafen hatten. Wann war das gewesen? Vor sechs Tagen? Vor sechs Wochen? Paul musste sich eingestehen, dass auch diesmal seine Chancen schlecht standen. Was denn, sollte es schon sechs Monate her sein? Das traf es schon eher. Aber, um ehrlich zu sein: Es lag noch ein Stück weiter zurück in der Vergangenheit. Mit Entsetzen erkannte er, dass es ihm nicht möglich war, sich zu erinnern. Nur so viel war sicher: Es war schon viel zu lang her. Und nun formte ein Gedanke sich hinter seiner Stirn. Ein Gedanke, den zu denken er bis vor kurzem nie imstande gewesen wäre: Hatte es sich durch etwas angekündigt? Eine berechtigte Frage. Schließlich geschah so etwas nicht von heute auf morgen. Und wenn es sich angekündigt hatte, warum hatte er es nicht gespürt? Er drehte sich um, vergrub das Gesicht in dem Kissen, das einmal ihres gewesen war und heulte wie ein Schlosshund. Ihr Duft kroch ihm in die Nase, und er wollte schon vor Freude aufspringen (Gott sei Dank, nun würde alles wieder gut werden!), als er begriff, dass der süßlich-angenehme Duft nur aus dem verdammten Kissen kam.

      Dann kam ihm noch etwas in den Sinn. Etwas, das ausreichte, noch das letzte bisschen Beherrschung zu verlieren. Voller Wut auf sich selbst und auf alles um sich herum schmiss er die halbleere Flasche an die Wand, wo sie scheppernd zerbrach. Hätte er es verhindern können? Hätte er es verhindern können, wenn er es nur geahnt hätte? Wenn er es hätte kommen sehen?

      Sie hatte ihm stumme Signale gesendet, da war er sich sicher. Aber erst jetzt, da es zu spät war, verstand er sie. Sie hatte es im Sanften versucht, hatte mit ihm reden wollen, über die Probleme, die sie beschäftigten und die sie oft nachts wach liegen ließen. Schließlich, nachdem es auf die sanfte Tour nicht funktionierte, hatte sie die Holzhammermethode angewandt. Sie verweigerte ihm den Sex und war sogar allein in den Urlaub gefahren. Hatte er ihr je gesagt, dass er sie vermisste? Dass er die ganze Zeit an sie denken musste? Sie war abends öfter ausgegangen und jedes Mal später nach Hause gekommen. Aber hatte er sie je gefragt, wo sie gewesen war? Mit wem? Und ob sie sich amüsiert hatte? Nein, kein einziges Mal.

      „Ich war so ein Arschloch“, hörte er sich laut sagen, „ich war so vertieft in meine verdammte Scheißarbeit, dass ich gar nicht merkte, wie meine Ehe zerbrach. Ich war ja so ein egoistisches Arschloch!“ Er jaulte wie ein Hund. „Ich war so mit mir selbst beschäftigt, dass ich gar nicht merkte, wie meine Frau sich mehr und mehr von mir entfernte,“ Und während er das sagte, begriff er den Sinn der Worte. Er begriff ihn mit aller Grausamkeit.

      Ihm lag noch so viel auf der Zunge. Er wollte sich beschimpfen, sich einen Hurensohn nennen, weil er so ein verdammter Idiot war. Aber so weit kam er nicht. Aus seinem Mund drang nur

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