Die letzte Seele. Lars Burkart

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Die letzte Seele - Lars Burkart

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ging langsam auf ihn zu. Doch noch ehe sie ihn erreichen konnte, boxte eine Freundin sie in die Seite und zischte: „Lass ihn doch! Verdammt, er versucht doch nur, die Heulboje zu beruhigen.“ Das leuchtete ihr ein. Paul konnte sich wieder um Jan kümmern.

      „Hör mal“, begann er wieder, und das Jammern wurde eine Nuance leiser, „ich weiß gar nicht, warum du so eingeschnappt bist.“

      „Na, weil … na, weil …“

      „Jetzt krieg dich doch wieder ein, Menschenskind! Ist doch kein Weltuntergang, so ’n blöder Pickel auf ’m Arsch! Hatten wir alle schon mal, richtig, Jungs?“

      Ein Raunen ging durch die Runde. Einer murmelte: „Na ja, ein gottverdammter Vulkan ist schon ein Scheißdreck gegen dieses Unikum“, und ein anderer, er schien der Älteste der Truppe zu sein, meinte: „Also, ich für meinen Teil pflege meinen Körper täglich mit Cremes und so `nem Zeug“, und noch einer murmelte etwas, das ungehört unterging.

      „Siehst du“, fuhr Paul fort und tat, als hätte er die anderen gar nicht gehört, „ist alles kein Beinbruch. Jetzt wisch deine Tränen weg!“

      Jan beruhigte sich.

      „Jan, alter Junge, wir haben dich nur verarscht. Sollte nur ein Scherz sein.“

      Das Schluchzen wurde leiser.

      „Nun komm schon. Wir konnten ja nicht ahnen, dass du gleich so ein Drama draus machst.“

      Das Schluchzen war jetzt zu einem Wimmern geworden. Der junge Paul setzte noch eins drauf: „Jetzt reiß dich aber mal zusammen, ja? Wir sind gleich auf dieser doofen Party und, mal ehrlich, willst du da mit tränenüberlaufenen Augen antanzen? Die Mädels riechen das zehn Meilen gegen den Wind! Dann kannst du gleich wieder abmarschieren, dann lässt dich nämlich garantiert keine mehr von ihrem Sahnetörtchen kosten, wenn du verstehst, was ich meine!“ Er grinste verschmitzt.

      Hoffnungsvoll sahen alle Jan an.

      Zwei, drei Sekunden passierte gar nichts. Paul fürchtete schon, sein Enthusiasmus war umsonst gewesen. Jetzt verstummte auch das Wimmern. Er sah ihn an, versuchte in den Augen Pauls zu ergründen, ob das auch stimmte. Doch eigentlich war es sonnenklar. Die Mädels wollten harte Kerle – solche, die mit dem rechten Arm Blumen für die Angebetete pflückten und mit dem linken Bäume mitsamt Wurzeln ausrissen. Solch Kerle wollten sie haben und keine Laschies. Und genau das wäre er in ihren Augen, wenn er seine Schleusen nicht bald wieder unter Kontrolle brachte.

      Jan schniefte noch einmal, spuckte Rotz auf die Straße, kramte verlegen nach einem Tempo, fand sogar eins (Paul hätte um ein Haar gekotzt, als er es sah, es wurde nur noch von Popeln zusammengehalten) und wischte sich hastig die Tränen weg. Der jüngere Paul speicherte in seinem Gehirnhinterstübchen: Jan bei nächster Gelegenheit mal ein neues Taschentuch schenken.

      Wenig später lief die Truppe weiter. Keiner verlor mehr ein Wort über das gigantische Furunkel. Zwanzig Minuten später erreichten sie ihr Ziel. Einigen war es in dieser Zeit schwer gefallen, keine Witze mehr über einen bestimmten Körperteil mit einer seltsamen Erhebung zu reißen.

      Sie standen auf dem Festplatzgelände des Nachbarortes und sahen sich um. Von überallher dröhnte Musik. Kinder liefen mit Luftballons in den Händen und tonnenweise Zuckerwatte im Gesicht vorbei. Sie waren auf dem Jahrmarkt. Über den Festplatz verteilt standen Karussells, Losbuden, Würstchenbuden und Eiswagen. Und vor jedem Stand pries der Inhaber lautstark seine Waren an: „Knackige heiße Würstchen! Knackige, heiße Würstchen! …Versuchen Sie Ihr Glück! Jedes zweite Los gewinnt! Versuchen Sie ihr Glück! … Lecker Eis für die Kleinen, probieren Sie! Nur fünfzig je Kugel! Probieren Sie! … Die Kinder lieben dieses Karussell! Nur einmal mitfahren und Sie sind begeistert!“

      Es roch nach Pferdeäpfeln und frisch gemähtem Gras. Sie standen inmitten des Treibens und sahen sich ratlos an. Das, was sich um sie herum abspielte, war ganz und gar nicht, was sie erwartet hatten. Wie auf Kommando steckte sich jeder eine Kippe in den Hals, zündete sie an und versuchte cool auszusehen. Sie waren hier fehl am Platz. Sie trugen die falschen Klamotten. Sie hatten sich für eine Disco angezogen, nicht für einen Kindergeburtstag.

      „Also“, begann einer (mit einem Mal konnte Paul sich wieder an seinen Namen erinnern), „entweder sind wir zu früh oder wir haben uns hier verlaufen.“ Jerome war sein Name, und Paul erinnerte sich deshalb so genau, weil sein Agent und späterer Freund genauso hieß – aber vor allem, weil dessen Gesicht so von Akne verunstaltet war, dass er sich wunderte, wie er ihn überhaupt hatte vergessen können. Soweit er sich erinnerte, hatte er sein Leben lang niemanden mehr gesehen, dessen Gesicht auch nur annähernd so von dieser Krankheit gezeichnet war wie das von Jerome.

      Jerome zog einmal kräftig an seiner Zigarette, spuckte zu Boden und sah die anderen an. Auch sie wussten nicht so recht, was sie davon halten sollten und blickten fragend zurück.

      „Auch das noch!“, meinte Jerome missmutig. „Hat denn keiner einen Plan, wie’s weitergehen soll?“

      Eines der Mädchen (sie hatte lange braune Haare, eine Brille und eine Spange, die bei jedem Wort blitzte) fragte: „Was haltet ihr davon, erstmal eine Kleinigkeit zu essen? Allmählich hängt mir mein Magen in der Kniekehle.“

      Der ältere Paul war erstaunt, wie mühelos er sich jetzt an die Namen erinnern konnte. Sie drangen zwar noch zähflüssig zu ihm durch, doch mit jeder Sekunde kamen die Erinnerungen schneller. Das Mädchen hieß Gamelia und wäre heute so alt gewesen wie er selbst. Doch sie hatte das Pech gehabt, einmal zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen zu sein: Sie war bei einem Schiffsuntergang ums Leben gekommen. Das Tragische an der Geschichte war, dass sie die Reise bei einem Preisausschreiben gewonnen hatte. Gamelia, ein ungewöhnlicher Name. Paul hatte seinerzeit davon in der Zeitung gelesen und schon damals bestürzt festgestellt, dass er bis zu diesem Zeitpunkt nicht mehr an sie gedacht hatte. Da sie in die selbe Klasse gegangen waren, hatte er an der Beerdigung teilgenommen, ihr das letzte Geleit gegeben. Danach war er in seinen schwarzen Volvo geklettert, hatte sich die Krawatte abgerissen, sie auf die Rückbank gepfeffert und Gamelia wieder vergessen bis … bis heute. Auf einmal plagte ihn so etwas wie schlechtes Gewissen. Doch für diese Art von Gefühlen war jetzt keine Zeit.

      Sie standen vor einer Würstchenbude und mampften zufrieden vor sich hin. Keiner sagte etwas.

      Auf einmal begann Jan zu lachen. Er lachte so heftig, dass die Hälfte seines Würstchens in hohem Bogen davonflog. Die anderen sahen ihn fragend an. Er konnte nichts sagen, er konnte ihnen nur durch Kopfnicken verständlich machen, dass sie sich umdrehen sollten. Sie taten es und schlossen sich sogleich seinem Lachen an.

      Hinter ihnen stand ein großes Werbeplakat, und eine Horde Kinder stand davor. Vielmehr standen sie um einen Erwachsenen herum, hatten ihn förmlich eingekesselt, und der Erwachsene machten ein gestresstes Gesicht, als wüsste er nicht, wo ihm der Kopf stand. Sie tänzelten um ihn wie Indianer um den Totempfahl und kicherten und gackerten, als wäre das Leben ein einziges Wunschkonzert. Im Gesicht des Eingekesselten konnte man lesen wie in einem Buch. Er hatte Mühe, den Ameisenhaufen ruhig zu halten und schien auch nicht mehr viel Geduld zu haben. Er war ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch. Die Kinder ließen sich davon nicht aus der Hektik bringen und machten weiter, was dem Mann die Zornesröte ins Gesicht trieb. Er kaute nun schon auf der Luft in seinem Mund herum.

      Doch eigentlich war dieses Treiben nur Nebensache. Die Jugendlichen interessierten sich mehr für das Werbeplakat. Vielmehr für das, was es in großen schwarzen Buchstaben verkündete:

      Sonnabend, den 26.07.1978

      Diskothek am Abend

      Große

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