Die letzte Seele. Lars Burkart

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Die letzte Seele - Lars Burkart

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Der Kreis, der gar kein Kreis mehr war, war verschwunden. Nur der Luftzug blieb. Er öffnete wieder die Augen und der Kreis war immer noch da, jetzt um ein einiges größer. Und auch die Ecken waren deutlicher zu erkennen. Allmählich nahm er die Form eines Tausendecks an, falls es das überhaupt gab. Sogar inmitten der Form wanden sich die Ecken. Und noch immer wurde das Gebilde größer und größer, und der Wind rauschte lauter und lauter.

      Wenn nicht bald etwas passiert, dachte Paul, drehe ich durch. Scheißegal, ob es gut für mich ist oder schlecht, ich will, dass es endlich vorbei ist!

      Er schloss die Augen ein zweites Mal. Er wollte sie erst wieder öffnen, wenn das hier vorbei war. Die Tatsache, selbst bestimmen zu können, ab wann man nichts mehr sah, war beruhigend. Sie war so tröstlich, dass er erleichtert ausatmete.

      Wie von allein öffneten seine Augen sich wieder. Paul konnte es weder kontrollieren noch verhindern. Jetzt endlich war zu erkennen, was da auf ihn zugerast kam. Das Bild, das er sah, war so grotesk, dass er nicht anders konnte als laut zu lachen. Das Lachen dröhnte bis unter seine Schädeldecke, und das Echo drohte sein Gehirn zu zermatschen. Es war einfach zu absurd.

      Das, was da mit ungeheuerlicher Geschwindigkeit auf ihn zugerast gekommen war, war nichts anderes als ein Zimmer. Ein stinknormales Zimmer. Bei dieser Vorstellung prustete er noch lauter.

      Es war … ja, es war haargenau das Zimmer, in dem seine Odyssee in die Vergangenheit begonnen hatte. Und es sah noch genauso aus, wie er es verlassen hatte. Mit etwas Mühe konnte er sogar die zersplitterte Kaffeetasse auf dem Boden erkennen.

      Das Toben des Windes schwoll an, wurde ein ohrenbetäubendes Kreischen und brach mit einem Mal ab. Ein Knall, als durchbreche ein Jagdflugzeug die Schallmauer. Und dann war alles ruhig. Viel zu ruhig.

      Paul spürte, wie er mit hartem Aufschlag in der Wirklichkeit aufsetzte. Sein Trip in die Vergangenheit war zu Ende. Und das tat ihm fast leid. Er hörte sich selbst murmeln: „Junge, Junge, hab noch nie so einen realen Traum gehabt! Echt beängstigend!“

      Er sah sich um, als hätte er das Zimmer, in dem er stand, noch nie zuvor gesehen. Am meisten verblüffte ihn, dass er mit dem Hinterteil auf den kalten Fliesen saß. Um sich nicht zu verkühlen, stand er auf.

      „Mann, das war vielleicht ein Höllentrip! Ich brauch schleunigst was zu trinken.“ Er watschelte zum Kühlschrank, nahm sich ein Bier, setzte sich auf den Küchentisch und trank in aller Ruhe.

      Dabei versuchte er, das soeben Erlebte Revue passieren zu lassen. Es war nur ein Traum gewesen, so viel stand fest. Es konnte gar nichts anderes gewesen sein. Ich muss eingeschlafen sein, dachte er. Und …. Mann oh Mann. Mir kreiselt es noch immer im Kopf rum …

      Er nippte noch einmal am Bier, rülpste herzhaft und erhob sich vom Küchentisch. Seine Beine waren weich und schwammig; außerdem hatte er sich den Ellenbogen aufgeschürft. Der Teufel sollte ihn holen, wenn er wüsste, wann das geschehen sein sollte! Zitternd und wacklig wie ein neugeborenes Fohlen stand er da, und seine Beine drohten unter seinem Gewicht zu brechen wie Streichhölzer. Obwohl er einem Strohhalm im tosenden Orkan glich, überlegte er, sich noch ein Bier zu holen. In der Sekunde, in der er sich dazu durchgerungen hatte, wurde es plötzlich wieder schwarz um ihn, und das Letzte, was er sah, war ein kleiner, dunkler Punkt, der sich rasend schnell in der Dunkelheit entfernte …

      Paul war wieder zurück. Er war wieder in seiner Vergangenheit. Aber etwas war anders. Nur was?

      Und da bemerkte er es.

      Zuvor hatte er das Geschehen um sich herum beobachtet wie einen Film. Er hatte den Freunden, Jeannine und natürlich auch sich selbst, bei ihren Handlungen zugesehen, mehr nicht. Jetzt war es anders. Jetzt sah er das Geschehen durch die Augen des jüngeren Paul, als säße er in dessen Kopf und blicke durch seine Augen. Nur eingreifen konnte er nach wie vor nicht – ein Umstand, der vielleicht sogar gut war. Was ihn noch mehr überraschte, war, wie Jeannine aussah. Sie hatte kein einziges Fältchen, kein graues Haar, nicht die kleinste Alterserscheinung. Vorher war ihm das nie aufgefallen. Er hatte sie ja jeden Tag gesehen, da entgeht einem die eine oder andere Veränderung. Aber da er jetzt ihr früheres jugendliches Gesicht vor Augen sah, bemerkte er jede Kleinigkeit, die sich in den Jahren verändert hatte.

      Kunststück, dachte Paul, dass sie so frisch und saftig aussieht – in dem Alter kann man sich ja nicht mal vorstellen, älter zu werden! Trotzdem wird man es, und eines Tages ist von der jugendlichen Frische nichts mehr da und man wird einem runzligen Apfel immer ähnlicher.

      „Darf ich dir eine Zigarette anbieten?“

      „Klar darfst du.“

      Einen Moment herrschte Schweigen.

      „Stell dir vor“, begann Jeannine, „meine alten Leutchen haben verlauten lassen, Fluppen sind schädlich. Und mir soll bitteschön ja nicht einfallen, mit dem Rauchen anzufangen. Die beiden haben es gerade nötig! Qualmen selbst wie zwei Schlote! Nee, nee, nicht mit mir, sag ich dir!“

      Paul sah sie ratlos an. „Wer oder was sind denn deine alten Leutchen?“

      „Sag mal, wo kommst du denn her? Tiefstes Mittelalter oder einsame Insel? Ich schätze mal, es war die Insel, richtig? War’s ein lauschiges Plätzchen? Wie dem auch sei, hier und zum Mitmeißeln: Damit meine ich natürlich meine Eltern, meine Alten. Meine bucklige Verwandtschaft. Du verstehst?“

      Paul errötete vor Verlegenheit. Dabei dachte er: Sie ist so süß, so zuckersüß. Kein Wunder, dass ich gerade so eine lange Leitung habe.

      „Lass gut sein. Es gibt Tage, da schnall ich auch nichts.“

      Jeannine wollte wieder Schwung in die Unterhaltung bringen, aber Paul, der das Gefühl nicht loswurde, sich auf die Knochen blamiert zu haben, wagte kaum noch, den Mund aufzumachen. Aber den Alleinunterhalter zu spielen, darauf hatte Jeannine auch keine Lust, und sie überlegte, was ihn wieder auf die Beine bringen würde.

      „Sag mal, was ist das für ’n komisches Gesöff, was du da in dich reinschüttest? Ich Dummchen hab leider vergessen, wie das heißt.“

      Augenblicklich hellte sein Gesicht sich auf.

      „Das“, erklärte er bedeutungsschwanger und führte die Hand zum Glas, um ihm noch mehr Gewicht verleihen, „nennt sich Diesel.“

      „Diesel?“

      „Ja, Diesel.“

      „Hm, so wie der Treibstoff, ja?“

      „Haargenau so.“

      „Und das soll gesund sein?“

      „Na ja, wie man’s nimmt …“

      „Hältst du es für eine gute Idee, dann hier zu rauchen? Ich meine, mit diesem Zeug im Glas?“

      „Nein, nein, natürlich nicht so einen Diesel.“

      „Ja, was denn für einen?“

      Paul hatte langsam den Eindruck, sie wollte ihn verarschen. Saublöde Fragen kann dieses Weibsstück stellen, dachte er. Als ob er so was saufen würde! Aber Scheiß drauf! Sie sieht so gut aus, dass es schon fast verboten gehört. Und mal ehrlich: Du würdest so ziemlich alles machen, damit sie hierbleibt. Gib es zu! Du würdest sogar einen Kopfstand machen und mit deinem Arsch Fliegen fangen, wenn sie es von dir verlangt!

      „Es ist Bier,

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