Die letzte Seele. Lars Burkart
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Die plötzliche Stille war seltsam. Sie tat fast weh. Irritiert fingerte er nach der anderen Fernbedienung für den Fernseher. Obwohl er wusste, wo sie war, fand er sie nicht. Seine Finger fuhren suchend umher und kippten ein Bier um, worauf Paul ein Klagegeheul anstimmte, das aber in der gleichen Sekunde in ein triumphales Gebrüll überging, dem Gebrüll eines männlichen Gorillas im Dschungel nicht unähnlich. Sein animalisches Verhalten war durchaus verständlich. Nicht auszudenken, wenn etwas von diesem lebensnotwendigen Alkohol verschüttet werden würde!
So tief bin ich also schon gesunken. Ein verschüttetes Bier ist für mich schlimmer als alle Seuchen zusammen. Was ist nur aus mir geworden? Ich stehe kurz davor, ein hemmungsloser Alkoholiker zu werden. Liegt das nur daran, dass sie mich verlassen hat? Nein, nein, diese Gedanken will ich nicht denken! Schluss damit! Schluss, sage ich! Nie mehr! Schert euch davon!
Schließlich fand er die Fernbedienung und schaltete ein. Mit zunehmendem Verdruss zappte er durch die Kanäle. Es kam nichts, was ihn hätte interessieren können. Also gab er schnell wieder auf und schaltete aus. Da sich die Suche nach Abwechslung durch den Fernseher als aussichtslos entpuppte, widmete er sich wieder dem, wovon er sich mehr erhoffte. Kaum zwei Stunden später war die Flasche Whiskey leer, und Paul fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Sein Haus war noch immer hell erleuchtet.
Kapitel 2
2. Kapitel
Nur mühsam öffnete Paul die Augen, erst das eine, dann das andere. Verschlafen blinzelte er ins Licht. Sein Kopf fühlte sich an wie ein Sandsack, den man zu Boxtraining benutzt hat. Irgendwie kam er ihm auch größer vor, als müsse er die Arme ausstrecken, wenn er die Ohren berühren wollte. Allerdings war das kein Grund zur Sorge. Das war immer so, wenn er einen über den Durst getrunken hatte.
Ungläubig glotzte er auf die leeren Flaschen vor sich.
„Habe ich wirklich so viel getrunken? Das muss aufhören!“
Die Luft stank nach Alkohol, kaltem Qualm und Bierfürzen. Genauso mühsam, wie er die Augen geöffnet hatte, versuchte er sich aufzurichten. Seine Augen suchten das Zimmer ab; er wollte unbedingt wissen, wie spät es war. Die Uhr an der Wand, die zu jeder halben und vollen Stunde ein „Kikeriki“ von sich gab, zeigte, dass es gleich halb elf war.
Obwohl er nicht wusste, was für Wetter war, wusste er, dass der Tag schön werden würde. Er fühlte sich gut, viel besser als gestern. Also stand er auf und öffnete die Rollläden. Das hereinschießende Tageslicht war greller als erwartet. Es verschlimmerte seinen Kopfschmerz augenblicklich um ein Vielfaches.
Paul ging in die Küche, setzte Kaffee auf, warf zwei Schmerztabletten ein, überlegte kurz, nickte zustimmend und schluckte noch zwei. Bis der Kaffee durchgelaufen war, blieb ihm noch etwas Zeit. Er ging duschen.
Paul duschte so, wie er es immer bevorzugt hatte: abwechselnd heiß und kalt. Als er sich wenig später mit einem Handtuch abtrocknete, fühlte er sich besser. Seine Haut war eiskalt, und er war herrlich erfrischt. Selbst die schlechten Gedanken und negativen Gefühle waren wie weggespült.
Er streifte den Morgenmantel über und ging zurück in die Küche. Er war ein Geschenk von Jeannette zu seinem fünfunddreißigsten Geburtstag gewesen. Paul bemerkte es erst, als er ihn übergestreift hatte und wappnete sich für eine neue Schmerzwelle. Glücklicherweise blieb sie aus. Der Tag wurde mit jeder Sekunde besser.
Leichten Fußes tippelte er weiter. Er war noch immer über seine ausgelassene Fröhlichkeit erstaunt. Die bittere Pein der letzten Tage schien meilenweit entfernt zu liegen. Er beschloss, dass es gut so war. Und dass so bleiben sollte.
Der Kaffee war heiß und kräftig, puschte ihn noch mehr auf. Und obwohl alles in bester Ordnung schien, wusste er, dass etwas fehlte. Eine innere Stimme tadelte ihn. „Natürlich fehlt was, du Trottel! Schließlich ist sie …“
Weiter kam die Stimme nicht. Paul würgte sie ab, noch ehe sie weitersprechen konnte. Er kicherte, als er erkannte, dass es gar nicht das war, was fehlte. Ihm fehlte etwas anderes: die Zeitung!
Kichernd lief er zum Briefkasten. Wenn ihn in diesem Moment jemand gesehen hätte, hätte er ihn für reif für die Irrenanstalt gehalten: Paul hüpfte wie ein Kaninchen im Morgenmantel über die Wiese und kicherte und gackerte unaufhörlich vor sich hin.
Er öffnete den Briefkasten und wunderte sich, dass er nicht nur eine, sondern gleich drei Tageszeitungen darin fand. Er klemmte sie unter den Arm und hüpfte auf die gleiche Weise zurück. Erst als er wieder am Küchentisch saß, ging ihm ein Licht auf: Er war offenbar schon drei Tage lang nicht mehr am Briefkasten gewesen.
Nachdem er die Zeitungen durchgeblättert hatte (er fand nichts, was ihn interessiert hätte, nur bei den Todesanzeigen ertappte er sich, dass er sie aufmerksam las), donnerte er sie achtlos in den Müll. Er war beschämt darüber, dass er so etwas wie Schadenfreude empfand. Was, zum Teufel, war nur mit ihm los? Warum fand er heute alles so urkomisch? Er hatte sich doch nicht etwa eine Alkoholvergiftung eingehandelt? Nein, an diese Erklärung glaubte er nicht. Dann würde er nicht so putzmunter herumturnen. Aber wenn es das nicht war, was war es dann? Er dachte nur kurz darüber nach. Erstens, weil er für konzentriertes Nachdenken gar nicht ernst genug war, und zweitens, weil er heilfroh war, nach den Tagen des Schmerzes und der Trauer etwas überdreht zu sein. Das hatte er sich, seiner Meinung nach, redlich verdient. Außerdem tat es den Menschen, die da abgenippelt waren, garantiert nicht mehr weh. Bei diesen Gedanken begann er wieder zu kichern, und aus dem Kichern wurde lautes Lachen. Paul lachte so laut, dass er um ein Haar das Schrillen des Telefons überhört hätte.
Während er noch von Lachsalven geschüttelt wurde, näherte er sich dem Ruhestörer. Aber er musste sich erst beruhigen. Paul biss sich beherzt auf die Zunge. Es tat höllisch weh.
„Ja, bitte?“
Einen Moment blieb die Leitung stumm. Dann meldete sich doch eine Stimme: „Paul, bist du es?“
Sein Hirn arbeitete auf Hochtouren. Die Stimme war ihm bekannt, aber momentan war es ihm unmöglich, ihr ein Gesicht zuzuordnen.
„Paul, antworte endlich!“
Noch immer hatte es nicht Klick gemacht. Wer konnte das sein? Vielleicht war es besser, aufzulegen …
„Hallo, Hallihallohallöle! Wenn du mich hören kannst, antworte mir gefälligst! Ich weiß, dass du am Telefon bist. Ich höre dich doch atmen!“
Noch immer blieb die Erkenntnis aus. Paul kratzte sich am Hinterkopf. Sein Brummschädel war abgeklungen. Er wusste, zu wem die Stimme gehörte. Er wusste es, also, warum zum Geier fiel es ihm nicht ein?
Die Stimme sprach weiter. Diesmal schien sie nicht zu Paul zu sprechen, sondern mit jemandem, der sich im gleichen Zimmer befand wie der Anrufer. „Okay, ich leg jetzt auf und versuch es später noch mal. Vielleicht ist dann ja die Verbindung besser.“
„Bestimmt hast du recht.“ Der Verdacht mit der zweiten Person war also richtig.
„Ich kann ihn atmen hören. Aber sonst bleibt alles tot. Scheiß Telefonleitung. Wahrscheinlich komm ich gar nicht zu ihm