Die letzte Seele. Lars Burkart
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Читать онлайн книгу Die letzte Seele - Lars Burkart страница 18
Zwischen den wildverstreuten Sachen fiel sein Laptop fast nicht auf. Schließlich kam es auf einen Gegenstand mehr oder weniger nun auch nicht mehr an. Paul seufzte, machte kehrt und verließ das Zimmer. Der Anblick der sterbenden Palme hatte ihn getroffen, ihn wütend gemacht. Die toten Pflanzen und Fische neben den Scherben wollte er so schnell wie möglich aus dem Kopf haben. Wie qualvoll musste ihr Sterben gewesen sein!
Mit hängendem Kopf watschelte er ins Wohnzimmer, warf sich rücklings auf die Couch und versuchte, sich mit animalischem Hin- und Herzappen durch das Fernsehprogramm abzulenken.
Zwei Stunden lag er so da, doch seine Wut wollte nicht verrauchen. Er hüpfte hin und her zwischen Sportübertragungen, Nachrichten und Spielfilmen, die doppelt so alt waren wie er selbst. Seine Laune war mies, sehr mies sogar. Er hatte eigentlich froh sein wollen. Die letzte Zeit war schwer genug gewesen. Hatte er da nicht etwas Euphorie verdient? Aber so sehr er auch versuchte, immer wieder stand das Bild des verwüsteten Arbeitszimmers ihm vor den Augen: die vertrocknete Palme, das zersplitterte Glas, die toten Fische auf dem Teppich. Und seine Manuskripte, die er wie ein Huhn gerupft hatte. Das einzige, wovon er sich etwas Linderung versprach, stand gutgekühlt in der Minibar im Keller. Aber er wollte nicht schon wieder trinken. Jedenfalls jetzt noch nicht …
Während er so dalag und Löcher in die Luft starrte, kam ihm eine Idee. Sie war schlicht und einfach: Er musste einfach nur genau das tun, was er getan hatte, als seine Laune besser gewesen war. Nicht mehr und nicht weniger. Dann würde es ihm gut gehen. Konnte das so einfach sein?
Da er gerade nichts Besseres zu tun hatte, stand er auf und lief zum CD-Player. Vielleicht gelang es ja Brian Johnson mit seiner Reibeisenstimme, seinen Missmut wegzugrölen. Paul drehte die Anlage voll auf und katapultierte sich in den nächsten Sessel. So viel dazu, dachte er, lassen wir unser Wundermittelchen am besten mal wirken!
Die Lautstärke war ohrenbetäubend. Der Bass dröhnte bis in seine Eingeweide, die Gitarren quietschten und quäkten, und die Boxen schienen von alldem überfordert zu sein. Obwohl er vermutete, davon hammermäßige Kopfschmerzen zu bekommen, fiel es Paul im Traum nicht ein, die Anlage leiser zu drehen. Die Musik musste mit brachialer Gewalt auf ihn wirken. Bis in jede Faser seines Körpers sollte sie dringen.
Eine halbe Stunde verging.
Und eine weitere.
Mittlerweile war die CD zu Ende, und er hatte AC-DC gegen Iron Maiden eingetauscht: „Seventh Son of a Seventh Son“. Seiner Meinung nach ein superhypergeiles Album. Er hatte das aus dem Jargon seiner Tochter aufgeschnappt; allerdings war für sie nur Popmusik superhypergeil.
Die ersten Töne waren kaum erklungen, da spürte er, wie sich etwas in ihm regte. Anfangs glaubte er, Blähungen zu bekommen, aber schon beim dritten Song begriff er, dass es keine Blähungen waren, sondern dass ihm einfach ein wenig wohler ums Herz wurde.
Paul tastete nach der Fernbedienung. Er wollte die Lautstärke noch mehr aufdrehen. Doch es stand bereits auf Maximum. Da das Ding unnütz war, flog es in die nächstbeste Ecke. Seine Stimmung wurde zusehends besser, und „Can I Play with Madness“ sang er schon lauthals mit. Dass er keine einzige Note halten konnte, störte ihn nicht. Und beim fünften Song ertappte er sich, wie er die „Jungfrauen“ auf einer unsichtbaren Gitarre begleitete. Da hielt es ihn nicht mehr im Sessel und er schnellte wie an einem Gummiband hoch.
Als das Telefon klingelte, hörte er es gar nicht. Er rannte durchs Zimmer wie über eine Bühne und kugelte sich auf dem Teppich, wobei er immer noch auf der unsichtbaren Gitarre spielte und den Text mitträllerte.
Mittlerweile war es dunkel. Paul stand im Bad und rasierte sich. Die untere Gesichtshälfte war unter Schaum begraben, dennoch hatte er es sich nicht nehmen lassen, eine Zigarette zu rauchen. Sie steckte zwischen seinen Lippen und qualmte um den Schaum herum. Langsam schabte er über die Bartstoppeln. Ratsch. Schab. Ratsch. Schab. Aus dem Badlautsprecher dudelte Musik. Diesmal aber leiser.
Nach der Rasur kam sein Grinsen wieder zum Vorschein. Er hielt kurz inne und betrachtete sich im Spiegel. Dann grinste er noch ein wenig breiter und schabte weiter. Wie schnell sich alles ändern konnte! Noch vor Tagen war ich der festen Überzeugung, eine glückliche Ehe zu führen. Tags darauf verlässt sie mich, wieder einen Tag später halte ich den Schmerz kaum aus, verliere fast den Verstand, und schließlich geht es mir wieder richtig gut. Blendend sogar.
Sein Gesicht war vom Schaum befreit, und er zeigte seinem Spiegelbild kampflustig die Zähne. Dieses tat es ihm sogleich nach, und Paul lachte es daraufhin frech an. Die rasierte Haut brannte, aber das war normal. Er klatschte sich Rasierwasser ins Gesicht, jaulte wie ein Hund und musterte sich im Spiegel.
Für einen Mann in seinem Alter sah er noch ganz passabel aus. Zugegeben, sein Bauch war runder geworden, die Haut hatte ein paar Fältchen, und wenn er sich eine Woche nicht rasierte, hatte er mehr Haare im Gesicht als auf dem Kopf. Trotzdem fühlte er sich noch jung.
„Und das ist schließlich die Hauptsache“, sagte er zu seinem Spiegelbild und das schien seiner Meinung zu sein, denn es tat nichts, was irgendeinen Protest andeutete. Es grinste ihn nur frech an.
Paul spülte das Gesicht, wischte den restlichen Schaum ab, steckte seinem Spiegelbild die Zunge raus, drehte sich um und verließ das Bad.
Der Porsche brummte über die dunkle Landstraße. Es fiel Regen, aber das tat Pauls guter Laune keinen Abbruch. Fasziniert beobachtete er, wie die Tropfen auf der Windschutzscheibe der Schwerkraft trotzten und aufwärts flossen. Schon als Kind war das immer so etwas wie ein kleines Wunder für ihn gewesen. Bis er dann älter wurde und den logischen Grund begriff. Danach verlor das Phänomen etwas seine Faszination. Und bis heute Abend schien dieser Teil, den er sich tief in seinem Inneren bewahrt hatte, geruht zu haben. Es war ihm nicht bewusst gewesen, dass sich daran etwas geändert hatte. Aber vielleicht war das ja gut so. Vielleicht bewahrt ja jeder Erwachsene einen kleinen Teil seiner Kindheit in sich auf.
Nach dem Bad war er in gute Klamotten gesprungen. Die Rolex hing locker an seinem Handgelenk. Er war nicht großkotzig, er hatte nur Lust, sie zu tragen. Und er hatte sagenhafte zwei Minuten darauf verwendet, sein Haar nach hinten zu gelen wie ein Zuhälter. Es fehlte nur noch der Zopf, das Hemd offen bis zum Bauchnabel und hautenge Jeans, die einem die Eier quetschten.
Der Scheibenwischer tat träge seinen Dienst und der Motor brummte vergnügt. Die Scheinwerfer bohrten sich in die Dunkelheit und die Straße glänzte wie ein Edelstein. Hier und da hatten sich Pfützen gebildet, und Paul lenkte den Porsche mittendurch; dabei quietschte er vor Vergnügen, wenn das Wasser zur Seite spritzte.
Paul wusste, dass er für die Witterungsverhältnisse zu schnell fuhr. Doch statt zu bremsen, erhöhte er noch die Geschwindigkeit. Es erstaunte ihn jedes Mal aufs Neue, wie schnell der Wagen beschleunigte. Seine Kraft war erstaunlich. Wo holte er das nur her? Natürlich wusste er, wie viele Pferdestärken dieser Teufelsschlitten unter der Haube hatte, aber das waren nur Zahlen. Ob nun dreihundert oder vierhundert PS – die Kraft, die daraus hervorsprang, war das Faszinierende. Dieses Gefühl, wenn er das Gaspedal nur leicht durchtrat. Atemberaubend. Mit nichts zu vergleichen.
Er ließ auf der Beifahrerseite das Fenster herunter, schaltete das Radio aus und gab noch mehr Gas. Mittlerweile raste er wie ein Pfeil durch die Dunkelheit. Ein hundertachtzig Sachen schneller Pfeil. Jetzt, da das Fenster offen war, hörte er noch besser den satten Sound. Und weil der Fahrtwind an der Karosserie vorbeipfiff, klang es sogar noch um einiges besser. Zugegeben, der Wind kam gegen den Motor nicht an. Aber dennoch hörte er eine wahre Sinfonie aus herzhaftem Brummen und zierlichem Brausen.
Mit einem Mal verlor er den Kontakt zur Straße