Die letzte Seele. Lars Burkart

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Die letzte Seele - Lars Burkart

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Druck in den Innereien, als würden seine Eingeweide nach außen gerissen. Obwohl es vorhersehbar war, dass so etwas geschehen würde, geriet er in Panik. Er spürte, dass die Räder keinen Kontakt mehr zum Asphalt hatten und nur noch über das Wasser rutschten wie die Kufen eines Schlittschuhs. Das war nicht gut. Das war ganz und gar nicht gut. Aber Paul bewies Geistesgegenwart, denn er ignorierte den Anflug von Panik und ging behutsam vom Gas. Und er beherrschte sich sogar so weit, nicht auf die Bremse zu treten, denn das wäre fatal gewesen.

      Es konnte sich nur um eine Sekunde gehandelt haben. Eine einzige Sekunde von dem Augenblick an, als er den Bodenkontakt verlor bis zu dem, als er vom Gas ging. Kaum länger als ein Wimpernschlag, aber ihm kam es vor wie eine Ewigkeit. Das Gefühl zu fliegen verging nicht, und das bedeutete gewiss nichts Gutes. Groteskerweise trug er die ganze Zeit ein dümmliches Grinsen im Gesicht.

      So plötzlich, wie der Kontakt zur Straße verschwunden war, war er wieder da. Sein Herz hämmerte bis zum Hals, und er bekam einen Schweißausbruch. Eine Sekunde lang verspürte er den törichten Drang, wieder Gas zu geben. Da er aber trotz allem nicht lebensmüde war, verkniff er es sich und verringerte das Tempo. Der Zwischenfall zerstörte seine gute Laune nicht, machte ihn aber vorsichtiger. Paul schloss das Fenster, schaltete das Radio wieder ein und fuhr stumm durch die Nacht. Der Motor verrichtete seinen Dienst nun nicht mehr so laut wie zuvor und schien darüber gar nicht erfreut zu sein. Allem Anschein nach betrachtete er es als seinen Job, ordentlich Krach zu machen.

      Paul bekam plötzlich eine schier unbändige Lust nach einer Zigarre. Er wollte unbedingt einen aromatischen Donnerbalken zwischen den Zähnen haben. Wie lange hab ich schon keine Zigarre mehr gepafft?

      Er dachte nach. Es war zehn vor elf, die Geschäfte hatten geschlossen. Aber wenn er einen Umweg von zwanzig Kilometern machte, kam er zur nächsten Tanke. Dauert höchstens ’ne Viertelstunde, so lange wird Jerome ja noch warten können, oder?

      Es dauerte nur achtzehneinhalb Minuten, und er war wieder an der Abbiegung. Zwar später als erwartet, aber immer noch in einer annehmbaren Zeit. Paul setzte den rechten Blinker, bog ab und fuhr wieder in die ursprüngliche Richtung. Hochzufrieden mit seiner Leistung, saß er hinterm Steuer. Er hatte bekommen, was er wollte und fühlte sich großartig.

      Der Rest des Weges verlief ohne Abenteuer. Er widerstand der Versuchung, das Gaspedal durchzutreten. Das mit der Raserei wäre vorhin ja fast ins Auge gegangen. Gott sei Dank war nichts passiert. Einen Moment überlegte er, was er antworten würde, wenn man ihn nach Jeannine fragte. Dass das geschah, war möglich, schließlich war sie ja auch eingeladen. Darüber wollte er sich jetzt aber nicht den Kopf zerbrechen.

      Eine halbe Stunde später fuhr er die Einfahrt zu Jeromes Grundstück hinauf. Mittlerweile war der Regen in ein strömendes Gießen übergegangen. Was er sah, überraschte ihn: Das Haus war vom Giebel bis zum Keller mit Lichterketten behangen, sogar die Tannen waren geschmückt. Ein Meer aus roten, grünen, blauen, weißen und gelben Lichtern.

      Langsam fuhr er die Einfahrt hinauf. Auf den letzten Kilometern hatte er etwas Bammel bekommen und war mehr als einmal wildentschlossen gewesen, umzukehren, heimzufahren, auf Jerome zu scheißen. Aber damit hätte er das Unvermeidliche nur hinausgezögert. Und heute konnte er es nicht nur herausfordern, sondern auch die Art und Weise wählen, wie sie es erfahren sollten.

      Er ließ den Motor noch ein paar Sekunden im Leerlauf brummen. So hatte er Zeit, sich zu sammeln, tief einzuatmen und sich gegen das zu wappnen, was da kommen möge. Auf einmal kreischte eine seiner inneren Stimmen: Was zum Teufel tust du hier? Verschwinde, so schnell du kannst!

      Die Stimme kam so überraschend, dass Paul zusammenzuckte – nicht nur, weil sie sich unaufgefordert zu Wort meldete, sondern auch, weil sie verdammt Recht hatte. Was, zum Teufel tat er eigentlich hier?

      Noch wusste niemand, dass er hier war. Einfach zu verschwinden wäre kein großer Akt: Ersten Gang einlegen, Kupplung kommen lassen, auf der Einfahrt wenden und einfach wieder abhauen. Der Gedanke war verlockend. Aber so leicht wollte er es sich nicht machen. Das war der Weg, den Feiglinge einschlagen würden. Und er war kein Feigling. Und außerdem, was würde er damit erreichen? Nichts. Nicht die Bohne.

      „Fick dich“, sagte er und knabberte an der Zigarre, die beruhigend zwischen seinen Zähnen wippte. Dann machte er erste Anstalten, sich aus dem Fahrzeug zu schälen. Den Weg vom Auto zur Eingangstür erlebte er wie in Trance.

      Was zum Geier soll das? Mach, dass du wegkommst! Kauf dir ’n paar Bier, fahr heim und besauf dich ordentlich! Das ist das Beste, was du tun kannst! Hörst du denn nicht?

      Anscheinend nicht, denn er spie ein giftiges: „Halt endlich dein elendiges Schandmaul! Ich sagte dir bereits, was du mich kannst. Oder?“ Mit diesen Worten drückte er auf die Klingel. Und nun glitt er auch wieder von dem tranceähnlichen Zustand zurück in die Wirklichkeit, wo er selbst Herr seiner Taten war.

      Du hast noch zwei Sekunden …

      „Klappe!“

      Schon ertönten Schritte, und da es ohnehin zu spät war für einen Rückzug, verstummte die Stimme und verschwand dorthin, woher sie gekommen war. Paul zog den Rauch der Zigarre ein, und in diesem Moment wusste er, dass er das Richtige tat. Alle Zweifel waren weggewischt.

      „Hi, Paulchen“, begrüßte ihn der Gastgeber, „schön, dass du kommen konntest.“

      „Ja, ja“, murmelte Paul mit zusammengepressten Lippen. Angst und Unsicherheit waren wieder da, hatten ihn jetzt voll im Griff, als hätten sie nur kurz hinter seinem Rücken gelauert. Und beide arbeiteten Hand in Hand. Sie peinigten ihn, fesselten seine Gedanken an negative Dinge, und um ein Haar wäre er davongestürzt. Doch so schwer es ihm auch fiel – er riss sich zusammen, zog noch einmal an der Zigarre und legte ein Mir-scheißegal-Grinsen auf. Zwei Sekunden später stellte er mit Genugtuung fest, dass seinem Gegenüber vor Überraschung der Mund weit offen stand. Ungläubig starrte Jerome auf die Zigarre, die zwischen seinen Lippen wippte. Paul ließ ein paar Augenblicke in Würde verstreichen, genoss den verdatterten Blick und stand regungslos da.

      „Du rauchst wieder? Ich dachte, du hast dem Tabak entsagt?“

      „Wie du siehst.“

      Wieder vergingen ein paar Sekunden, in denen die Männer sich schweigend gegenüberstanden. Teils lag es daran, dass Jerome von der Zigarre überrascht war, teils aber auch daran, weil Paul so lässig und selbstsicher wirkte. Das kannte man sonst gar nicht von ihm. Sonst war er ein eher stiller Typ. Aber jetzt wirkte er fast schon cool.

      „Willst du mich nicht reinbitten?“

      „Äh … was? Ach so.“

      Während Paul an ihm vorbeischlenderte und zufrieden paffte, dachte er bei sich: Was bin ich doch für ein großartiger Schauspieler. Ich markiere hier den starken Mann, aber in Wirklichkeit mach ich mir vor Angst fast ins Hemd. Und er schickte ein Dankgebet an jeden Gott, von dem er je gehört hatte, während er zugleich darum bat, dass er nicht nach Jeannine gefragt würde.

      Das Haus war groß, fast schon eine Villa. Es war von einer mächtigen Rasenfläche umgeben, die eine drei Meter hohe Mauer umschloss. Der Rasen war vereinzelt mit Sträuchern, schwarzem Holunder und Faulbäumen besetzt, und hier und da stand sogar eine Tanne. Das Grundstück war groß und prächtig, aber er war nichts im Vergleich zum Haus.

      Schon im Vorzimmer ahnte der Besucher, dass sein Besitzer finanziell gut bestückt war. Direkt neben dem Eingang stand ein antikes Möbelstück, bei dem man nicht sicher sein konnte, ob es nur zur Dekoration da war oder ob man die Jacke hineinhängen konnte. Das Wohnzimmer war weitläufig wie ein Saal, aber nur spärlich möbliert. Ein

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