Die letzte Seele. Lars Burkart

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Die letzte Seele - Lars Burkart

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Was war geschehen? Was trieb sie dazu? Warum hatte sie das nur getan? Mit Grausen malte er sich aus, wie er reagieren würde, wenn seine Frau ihn verlassen würde. Eine Welt würde zusammenbrechen, es wäre…

      Paul riss ihn aus den Gedanken.

      „Ich gehe. Ich hätte das nicht sagen sollen. Keine Ahnung, was ich mir dabei gedacht habe.“

      „Wo willst du hin?“, fragten Jerome und Vincent wie aus einem Mund.

      „Wie, wo will ich hin? Was soll die Frage? Nach Hause natürlich! Wohin denn sonst?“

      „In deinem Zustand fährst du keinen Meter mehr! Nur damit das von vornherein klar ist!“

      „Ja, das wäre Wahnsinn“, stimmte Vincent ihm zu, „glatter Selbstmord, wenn du mich fragst!“

      „Tue ich aber nicht.“ Paul war erregt und zornig. Mit welchem Recht verbieten die mir eigentlich, heimzufahren? Ich kenne den Weg wie meine Westentasche! Ich könnte ihn blind fahren! Er machte Anstalten sich aufzurichten, aber Jerome war schneller und drückte ihn wieder zu Boden.

      „He, was soll das? Lasst mich gefälligst!“ Paul war verdutzt, aber noch mehr verärgert. Jerome ließ sich davon nicht beeindrucken.

      „Du fährst nirgendwohin, basta!“

      „Und warum nicht?“ Paul war immer ein Trotzkopf gewesen.

      „Warum nicht?“ Jerome äffte ihn nach. „Was für eine blöde Frage! Weil du sternhagelvoll bist, deshalb! Du bist so voll, dass du kaum noch gerade sitzen kannst, von Fahren mal ganz zu schweigen!“

      „Na und?“ Paul benahm sich wie ein kleines Kind, das etwas will, es aber nicht bekommt. Kurz gesagt: Er wurde bockig.

      „Ich sag es noch mal: Du bleibst hier. Basta.“

      „Genau.“ Auch Vincent ließ wieder einen Kommentar los. Es ging ihm auf den Wecker, dass die beiden sich fast in den Haaren lagen. So sollte der Abend nicht enden. „He, Jungs“, fuhr er sie an, „haltet den Ball flach, ja? Es bringt doch nichts, wenn ihr euch die Köpfe einschlagt! Damit ist niemandem geholfen. Lasst uns lieber noch ein Weilchen hier sitzen, noch einen oder zwei heben und wieder freundlich zueinander sein. Später sucht sich dann jeder einen Platz für die Nacht. Ich für meinen Teil bin dann bestimmt so blau, dass ich sogar im Stehen penne. Was haltet ihr davon?“

      Sie dachten darüber nach.

      Und entschlossen sich schließlich, seinem Vorschlag zu folgen.

      Jerome mixte noch ein paar Drinks, und unterdessen suchte Paul einen anderen Radiosender, der nicht alle naselang Trauermärsche spielte.

      Nach dieser kleinen Meinungsverschiedenheit war die Stimmung nicht mehr die alte. Sie saßen einander gegenüber, diesmal jeder auf einem Sessel, denn auf den Fliesen war es kalt geworden. Rings um sie lagen Schnapsleichen, die so laut schnarchten wie Ochsen und gelegentlich irgendetwas lallten.

      Jerome dachte mit Schaudern an den Müll, der hier rumlag und an die Stunden, die es dauern würde, diesen Saustall wieder in Ordnung zu bringen. Vincent freute sich tierisch auf den nächsten Abstecher ins Bordell. Er konnte es kaum noch erwarten. Er war schon so etwas wie ein Stammgast dort. Mehrmals in der Woche stattete er seinem Lieblingsetablissement einen Besuch ab und ließ jedes Mal nicht eben wenig Geld dort. Darum tat es ihm nicht leid. Was ihm aber leid tat (obwohl er natürlich Spaß hatte) war, dass nie Liebe mit im Spiel war. Nicht ein Funke. Es war nur ein Geschäft, einzig und allein ein Geschäft. Und das schmerzte ihn.

      Paul, der mit Abstand am meisten gebechert hatte, hatte damit zu tun, nicht vom Sessel zu rutschen. Er bereute es jetzt, dass er es erzählt hatte.

      „He, Paul!“

      Es dauerte eine Weile, ehe die Worte sein umnebeltes Gehirn erreichten.

      „Was ist los, Kleiner?“

      Vincent blickte unschlüssig drein. Er überlegte, ob es böse gemeint war, entschied sich dann, dass es das nicht war und suchte nach passenden Worten. Wieder vergingen Sekunden, und dann meldete Vincent sich wieder – allerdings anders als erwartet. Statt etwas zu sagen, schnarchte er lautstark.

      Paul lachte. Diese Jugend, dachte er, halten nichts mehr aus, die jungen Burschen! Mit einem fröhlichen Pfeifen zog er an seiner Kippe. Seine gute Laune war schlagartig wieder da. Er drehte sich in Jeromes Richtung und lachte.

      „Ist das denn die Möglichkeit? Der pennt wie ein Murmeltier!“

      Jerome hatte sich zu einer Kugel zusammengerollt. Auf den ersten Blick schien es unmöglich, so verdreht dazusitzen und dabei auch noch zu schlafen. Paul musste ein zweites Mal hinsehen. Er konnte es kaum glauben, aber es blieb so: Jerome schnuffelte tief und fest. Paul lachte ohne jegliche Hemmungen, und er hörte erst auf, als jemand hinter ihm unwirsch stöhnte. Da es aber nur ein verschlafenes Stöhnen war, machte er weiter. Irgendwann dann hatte er davon genug. Es kündigte sich bereits ein leichter Kopfschmerz an, und er erhob sich schwerfällig. Das war alles andere als leicht, weil er ziemlich betrunken war und der blöde Sessel partout nicht stehenbleiben wollte. Nach einigem Hin und Her, bei dem er es auch nicht versäumte, dem Sessel ein „Sitz!“ zu befehlen, gelang es ihm schließlich.

      Den Frechdachs von Sessel zu besiegen, war aber nur die halbe Miete. Paul stand noch einiges bevor. Auf wackligen Beinen stolperte er durchs Zimmer. Er kam sich fremd vor, wie ein Einbrecher. Alles um ihn herum lag in tiefem Schlaf, und er tappte durch eine fremde Wohnung. Ein Einbrecher machte es nicht anders. Der Gedanke war so absurd und gleichzeitig so komisch, dass er schon wieder zu lachen begann. Diesmal um einiges lauter. Lange würde es nicht mehr dauern, bis er die ersten aus ihrem Delirium riss. Zum Glück gab es ein totsicheres Mittelchen dagegen: Er biss sich auf die Lippe, und der Schmerz trieb ihm sein Gelächter schnell wieder aus.

      Nachdem er sich etwas gefangen hatte, trottete er weiter. Er wusste nicht recht, was er vorhatte, war sich gleichzeitig aber auch nicht sicher, ob er das überhaupt wissen wollte. Langsam schlich er an den Sessel, auf dem Jerome schnarchte und stapfte mit hängenden Schultern an ihm vorbei wie Quasimodo, der Glöckner von Notre Dame. Einen Moment dachte er, es sei sein schlechtes Gewissen, das ihn verleitete, krumm zu gehen, dann merkte er, es lag am Suff.

      Was habe ich vor? Warum schleiche ich hier wie ein Dieb in der Nacht rum? Und warum zum Teufel werde ich das Gefühl nicht los, dass es mir kein bisschen gefallen wird? Pauls Unbehagen wuchs mit jeder Sekunde. Vielleicht war es ja doch so etwas wie ein schlechtes Gewissen. Wer konnte das so genau sagen?

      Schließlich trugen seine Füße ihn zur Hausbar. Sein Erstaunen darüber wich schnell Erleichterung. Im Gedanken hatte er sich schon bei etwas weitaus Schlimmerem gesehen. Er war überzeugt davon gewesen, den Safe plündern zu wollen. Oder, was noch schlimmer gewesen wäre, er hatte sich selbst gesehen, wie er mit Benzinkanister und Streichhölzern bewaffnet irre gackernd durch die Bude rannte. Und er hatte sich mit Jeromes Ferrari auf einen Baum zurasen sehen. Das alles wäre katastrophal gewesen; wenn es dabei blieb, die Hausbar zu plündern, konnte er das gerade noch mit seinem Gewissen vereinbaren. Und während er das noch dachte, griff er schon wie ein Schiffbrüchiger nach allem, was ihm in die Finger kam und stürzte torkelnd damit aus dem Haus.

      Das Ergebnis seines Raubzuges konnte sich sehen lassen. Es war so viel, dass es an ein Wunder grenzte, dass er nicht vornüber fiel. In den Händen hielt er eine Schachtel kubanische Zigarren, drei Flaschen edelsten Whiskey und zu guter Letzt noch zwei Flaschen Rum. Ein beachtlicher Fang.

      Paul

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