Die letzte Seele. Lars Burkart
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Sie waren nun schon seit fast sieben Monaten ein Paar. Und in dieser Zeit war einiges passiert. Sie hatten sich gestritten, so wie es überall vorkommt, und hatten sich wieder vertragen, was auch mal vorkommt. Hatten sich geküsst und auch ein wenig am anderen herumgekrabbelt. Sie empfanden das als schön und intim, aber so richtig miteinander geschlafen hatten sie noch nicht. Trotz mancher Gelegenheiten war es noch nicht dazu gekommen. Sie ließen sich Zeit, den Körper des anderen zu entdecken. Niemand hetzte sie. Sie hatten alle Zeit der Welt für diesen letzten Schritt. Und wer weiß, vielleicht würde es ja heute geschehen? Vielleicht war ja heute der große Tag?
Das Glühen in seinem Schritt war zu einem Feuer geworden. Sein Penis hatte sich erregt aufgerichtet. Und obwohl es das natürlichste der Welt war, schämte Paul sich etwas dafür. Noch bevor sie ihn erreicht hatte, versuchte er, seinen kleinen Paul durch die Hosentasche greifend so hinzulegen, dass er nicht sofort zu erkennen war. Kein leichtes Vorhaben, schließlich ist so eine pralle Stange widerborstig. Aber Jungs in diesem Alter haben damit Erfahrung. Ihm war es schon mehr als einmal so ergangen, dass er mit den Gedanken abdriftete, meist in der Schule, weil es da ja langweilig war. Nicht selten handelte es sich um sexuelle Gedanken, in denen er sich selbst als tollen Hecht sah, der die Mädchen reihenweise abschleppte. Und wenn man dann in der Sekunde an die Tafel gebeten wird, in der man gerade ein riesiges Rohr in der Hose hat, konnte man schon schön in Bedrängnis geraten. Wohin mit dem ausgefahrenem Periskop? Draufhauen? Keine gute Idee, fällt auf und tut höllisch weh. Warten, bis er von allein wieder einschrumpft? Auch eine Möglichkeit, aber wie lange hätte er sitzen bleiben sollen? Und vor allem: Wohin mit den ganzen Sechsen, die er sich dann reihenweise einhandeln würde? Oder aber man knebelte ihn so in der Hose zusammen, dass von ihm nur noch ein Beulchen zu sehen war. Mit ein wenig Übung hatte man diesen Trick schnell raus, und Paul hatte genug Übung. Es dauerte also nicht lange, bis er ihn versteckt hatte und Jeannette entgegenlaufen konnte.
Der Schnee knirschte bei jedem Schritt. Es war schweinisch glatt und er strauchelte; dennoch konnte er es nicht lassen, ihr entgegenzustürmen und dabei wie ein Karnickel in die Höhe zu springen. Nach wenigen Sprüngen kam er vor ihr zum Stehen. Sie sahen einander in die Augen, beide außer Atem (vielleicht rauchten sie ja zu viel?) und fielen sich in die Arme. Er bewunderte ihre Schönheit und sog ihren erregenden Duft in sich ein. Jeannine ließ sich in seine Arme fallen und empfing einen heißen Kuss auf die kalten Lippen. Schlagartig wurde es ihnen wärmer.
Nachdem sie sich den Magen mit Ananaspizza vollgeschlagen hatten, gingen sie ins Kino. Auf dem Weg dorthin wären beide oft auf der Nase gelandet, hätte Paul sie und sich selbst nicht im letzten Moment abfangen können. Leider gelang das nicht immer, aber Jeannine (und das machte sie nur noch sympathischer) nahm es mit Humor. Er benötigte alle seine Kraft, und seine Muskeln schmerzten schon nach kurzer Zeit. Insgeheim verfluchte er diejenigen, die es nicht für nötig hielten, Sand oder Salz zu streuen. Jeannine schimpfte wie ein Rohrspatz über die Kälte, aber es war unschwer zu erkennen, dass es ihr trotzdem einen riesigen Spaß machte. Sie lachte und gackerte vor sich hin, und auch Paul wurde davon angesteckt.
Einige geglückte Stürze später kamen sie mit heiler Haut im Kino an. Sie lachten sogar noch, als sie längst in den Sesseln vor der Leinwand hingen.
„Wie oft bist du hingeplumpst?“
Paul sah an sich herunter, überschlug die nassen Flecken in der Hose und verkündete: „Mindestens fünfhundert Mal. Und du?“
„So an die tausend Arschrutscher waren es bestimmt.“ Das war natürlich bei beiden maßlos übertrieben.
„Weißt du, dass du mich mit deiner dicken Jacke an einen Seelöwen erinnerst?“
„Häh? Wie das denn?“
„Ja, ohne Scheiß.“ Sie lachte jetzt, und auch Paul lachte, obwohl er nicht so recht wusste, warum.
„Du hattest eine ziemliche Ähnlichkeit mit diesen Viechern! Jedes Mal, wenn du versucht hast, einen von uns wieder aufzurichten und sich deine Jacke ausbeulte, warst du ihnen wie aus dem Gesicht geschnitten. Ich weiß auch nicht, wie ich’s anders erklären soll. Haben nur noch die Stoßzähne gefehlt und der Bart.“ Ihr Lachen klang fast schon ein wenig hysterisch, und Paul stimmte mit ein, obwohl der Scherz ja eigentlich zu seinen Lasten ging. Aber das war das Schöne an Jeannette: Er wusste, dass sie nur Spaß machte und ihn hochnehmen wollte. Und darum war er ihr auch nicht böse.
Sie knutschten den ganzen Film über, und am Ende wusste keiner so genau, um was es da eigentlich gegangen war. Sie wussten noch nicht mal den Namen des Schinkens.
Paul blickte vom Notebook auf und sah traurig an die Wand. An das, was er soeben gelesen hatte, hatte er seit Jahren nicht mehr gedacht. Es war vollkommen aus seinen Gedanken verschwunden. Er hielt das für etwas Normales. Schließlich waren seitdem mehr als zwanzig Jahre vergangen. Was ihn wunderte, war, dass er das jetzt ausgerechnet auf dem Bildschirm lesen musste. Das war nun alles schon so lange her. Er wusste ja noch nicht einmal mehr, wie dieser Abend weitergehen würde. Und jetzt fand er das ausgerechnet auf dem Bildschirm. Sonderbar.
Fragen über Fragen schwirrten ihm durch den Kopf. Das alles ging weit über sein Verständnis hinaus und gab eine Menge Rätsel auf. Wann er das geschrieben haben sollte, spielte nur eine untergeordnete Rolle. Wenn man es genau betrachtete, konnte er es im Suff getan haben. Das würde zumindest erklären, warum er sich nicht daran erinnern konnte. Das klang plausibel, aber er glaubte es dennoch nicht. Etwas daran war seltsam.
Um das Rätsel zu lösen, blieb ihm nichts anderes übrig, als weiterzulesen. Aber genau das wollte er nicht. Davor hatte er Angst. Schließlich war es ja gut möglich, dass er statt Antworten noch mehr Fragen erhielt.
Er überlegte, einfach aus dem Arbeitszimmer zu verschwinden. Einfach abhauen, die Tür hinter sich ins Schloss knallen lassen und nie wieder zurückkommen. Verdammt, das war mal eine richtig gute Idee. Genau das würde er tun.
Er sah von der Wand weg, blickte zur Tür und steuerte sie an. Er spürte, dass seine Beine einen Schritt gehen wollten, doch statt ihn dorthin zu bringen, sorgten sie dafür, dass er sich auf den Stuhl setzte. Das Merkwürdige daran war, dass er es zuerst nicht bemerkte. Vor seinem inneren Auge sah er sich zu Tür schlendern, raus aus dem Haus, weg von hier, irgendwo ein neues Leben anfangen, und dann verwehte dieser schöne Traum und was blieb, war die traurige Realität.
„Langsam glaube ich“, murmelte er, „ich verliere den Verstand. Ich sehe Dinge, die gar nicht da sind.“
Seine rechte Hand ruhte auf der Tastatur und bewegte mit dem Cursor den Text. Und da seine Neugier um einiges stärker war als seine Angst, las er weiter.
Langsam fiel die Wohnungstür ins Schloss. Die Eltern schliefen bestimmt schon längst, und sie wollten sie auf keinen Fall wecken. Außerdem durften sie nicht erfahren, dass Jeannette ihren Freund zu solch später Stunde mitbrachte. Sie wusste nicht, wie sie reagieren würden. Sie kannten ihn bereits und schienen ihn zu mögen. „Aber um Mitternacht ist Zapfenstreich“, hatte ihr Vater immer gepredigt, und da duldete er keinen Widerspruch, „da liegst du in der Falle – und zwar allein!“
Bisher hatten sie sich immer danach gerichtet. Aber heute knisterte es zwischen ihnen viel mehr als sonst. Als läge etwas in der Luft. Wie Elektrizität. Sie konnten förmlich auf der Haut spüren, wie sie kribbelte und nach und nach ihr Denken übernahm. Aber auch der verrückte Abend hatte sie wohl übermütig werden lassen … Auf Zehenspitzen schlichen sie am Schlafzimmer der Eltern vorbei. Auf der anderen Seite der Tür schnarchte ihr Vater ausdauernd. Er erinnerte an einen Holzfäller,