Die letzte Seele. Lars Burkart

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Die letzte Seele - Lars Burkart

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Denn in diesem Moment kam das Fahrzeug herangerauscht. Obwohl Paul alle Kraft in den Sprung gelegt hatte, war es ihm, als käme er keinen Millimeter vom Fleck. Das Fahrzeug war jetzt schon gefährlich nahe. Der Fahrtwind schlug ihm wie eine Faust ins Gesicht. Und während er ihn spürte, war es ihm, als zerbrösele jeder Knochen in seinem Körper zu Mehl. Das war aber nichts im Vergleich dazu, was geschehen wäre, wenn er nur einen Wimpernschlag gezögert hätte. Jetzt erkannte er, dass der Wagen ein Porsche war. Aber es war nicht irgendein Porsche, es war sein eigener.

      Wie war das möglich? Er musste sich verguckt haben. Dass er einer Sinnestäuschung erlegen war, war durchaus nicht weithergeholt, vor allem nicht nach diesem Kamikazesprung. Doch diese Erklärung akzeptierte Paul nicht. Er hatte das Kennzeichen gesehen. Alles hatte gepasst, von den Felgen bis zum Dach. Er liebte seinen Flitzer und kannte ihn wie seine Westentasche. Außerdem hatte er den Aufkleber „Stoppt Tierversuche! Nehmt Politiker!“ gesehen. Er pappte genau da, wo er sein sollte: rechts neben dem Nummernschild. Und hatte er nicht auch, als er die Luft gesegelt war, einen Blick auf den Fahrer erhaschen können? Er, Paul war es gewesen, er selbst, zweifellos. Aber wie war das möglich? Wie, zum Teufel?

      Paul rollte aus, kam mit dem Rücken an einen Baum gelehnt zum Stillstand und starrte fassungslos dem Wagen hinterher. Die Bremslichter flackerten kurz auf, erloschen wieder, und dann wurde die Fahrt mit zunehmendem Tempo fortgesetzt.

      „Scheißkerl, verfluchter!“, schimpfte Paul. „Wohl den Führerschein im Lotto gewonnen, was? Besoffenes Arschloch!“

      Und da dämmerte ihm etwas, und er schreckte hoch.

      Paul saß kerzengerade im Bett.

      Jetzt war ihm endlich gekommen, was die Erinnerung ihm hatte sagen wollen: Er selbst war dieser Trunkenbold gewesen. Aber das war noch längst nicht alles. Das Schlimmste war, dass er in diesem Zustand Auto gefahren war. Benommen sah er sich um. „Wenigstens weiß ich jetzt, wo ich bin.“

      Und mit diesen Worten flammte neuer heißer Schmerz in seinem Kopf auf.

      Die plötzliche Helligkeit war unangenehm. Auch von ihr kamen die Kopfschmerzen, aber vor allem war der Alkohol schuld. Sein Schlafzimmer war hell, und das konnte nur bedeuten, dass es schon nach Mittag war. Paul seufzte und richtete sich auf. Der Schwindel und sein Kopf, der sich anfühlte, als wäre er zur Größe eines Medizinballes geschwollen, wollten ihn mit vereinten Kräften wieder flachlegen. Er kämpfte mit aller Macht dagegen an und schaffte es schließlich, wankend stehenzubleiben.

      Das Schlafzimmer war ein Saustall: Klamotten lagen wild durcheinander, und es stank nach Alkohol und Qualm. Für den schlimmsten Gestank waren die Kotzlachen verantwortlich, die wie Pfützen auf dem Boden standen.

      Mit brummendem Schädel stapfte er nach draußen. Diesmal lüftete er nicht. Er wollte nur hier raus. Mit Krachen flog die Tür ins Schloss. Paul erschrak. Und so hielt er erst einmal inne, um zu verschnaufen. Er stand auf dem Flur und hielt noch immer die Türklinke, als wäre seine Hand daran festgeklebt. Ihm war speiübel, sein Körper und sein Atem stanken bestialisch, sein Kopf dröhnte wie ein Presslufthammer, und er fragte sich, ob er den ganzen Alkohol, den er bei Jerome hatte mitgehen lassen, getrunken hatte. Die Frage war einfach zu beantworten. Dazu brauchte er nur in seinen Körper hineinhören, um zu wissen, dass er genau das getan hatte. Glauben konnte er es trotzdem nicht.

      „Ich brauche ’ne Tasse Kaffee. Einen extrastarken. Einen, der mich wieder auf die Beine bringt.“

      Seine Stimme klang schwach und zittrig.

      Eine knappe Stunde später hatte er nicht nur eine Tasse, sondern eine ganze Kanne getrunken. Er war heiß und stark gewesen, aber Paul bezweifelte, dass er ihm nutzte. Er fühlte sich noch ebenso beschissen wie vorher. Das einzige, was sich geändert hatte, war der ständige Harndrang. Mittlerweile war er schon fünf Mal pissen gewesen, und allmählich wurde es Zeit für das sechste Mal. Schweiß lief in Bächen an ihm herunter, und nur eine Sekunde später überkam ihn eine Gänsehaut. Ihm war abwechselnd kalt und heiß, sein Hals kratzte, und seine Stimme war belegt. Nichtsdestotrotz redete er wie ein Wasserfall vor sich hin. Er laberte einfach alles nach, was ihm gerade in den Sinn kam, egal, ob es intelligent war oder Schwachsinn.

      „Soso, du bist also noch Auto gefahren? Junge, Junge, Junge, was bist du nur für ein Teufelskerl! Der Kaffee ist schweineheiß. War ’ne tolle Party gestern, oder? Igitt, igitt, ich hab ja noch Kotze am Finger. Scheißegal. Zum Glück ist nix passiert …“

      Da wurde ihm siedendheiß und kalt zugleich. Er erinnerte sich plötzlich, wie er sich durch einen Sprung in den Straßengraben gerettet hatte – und zeitgleich war er auch der Fahrer gewesen. Hatte das etwas zu bedeuten? Paul öffnete langsam den Mund, als ob er etwas sagen wollte, schloss ihn aber wieder und starrte in die Kaffeetasse, als stände die Antwort darin. Mit einem Mal sprang er wie von der Tarantel gestochen auf; in seinen Augen lag blankes Entsetzen. Im Hinterkopf registrierte er, dass seine Hand schmerzte, weil der heiße Kaffee, den er eben umgeschmissen hatte, darüber gelaufen war.

      Wie von Sinnen sauste er aus der Küche und hastete den Flur entlang auf die Terrasse. Mit einem mächtigen Satz sprang er über die Hecke und kam neben dem Kotflügel seines Wagens zum Stehen. Der Sprint war ihm gehörig auf die Puste gegangen, und er musste erstmal verschnaufen. Aber sein Gehirn lief weiter auf vollen Touren. Es malte sich die schlimmsten Dinge aus. Was, wenn er jemanden angefahren hatte? Ihn verkrüppelt hatte? Seine Nackenhaare richteten sich auf. Vielleicht lebte dieser Jemand ja noch …? Vielleicht lag er ja noch schwerverletzt, blutend und mit gebrochenen Gliedern im Straßengraben …? Unentdeckt …? Noch immer auf Rettung hoffend, während er qualvoll und einsam starb …?

      „Schluss damit!“, herrschte Paul sich an. Er war wieder bei Puste und begann den Wagen zu kontrollieren; auf allen Vieren kriechend suchte er jeden Millimeter der Karosserie ab. Er fand jedoch nichts außer einer kleinen Delle am rechten Kotflügel – und die war, da war er sicher, schon um einiges älter.

      Obwohl er mit dem Ergebnis hätte zufrieden sein sollen, war er es nicht. Er setzte sich im Schneidersitz neben das rechte Vorderrad, klopfte mit den Fingern auf den Boden und dachte nach. Die Kopfschmerzen, die inzwischen so anschwollen, als starte ein Jumbo in seinem Kopf, waren in weite Entfernung gerückt. Der Boden kühlte seinen Körper aus, doch er blieb sitzen und sann darüber nach, was ihn hier herausgeführt hatte. Er sah aus, als wäre er zu einer Statue geworden; nur seine Finger bewegten sich, und seine Augen wanderten hin und her wie bei einem Träumenden. Seine Gedanken purzelten derweil durch sein Gehirn, und er lauschte ihnen beklommen.

      Gut, sagten sie, der Porsche hat also keine neue Delle, Glück für dich! Aber heißt das auch, dass du niemanden angefahren hast? Erinnere dich, mein Bester! Du musstest einen mächtigen Hüpfer in den Straßengraben machen, sonst wärst du jetzt so platt wie eine Briefmarke. Vielleicht hat das ja zu bedeuten, dass es dem anderen genauso erging?

      Mehr brauchte er nicht zu hören. Dieser Gedanke ließ die Sache in einem ganz anderen Licht erscheinen. Wenn es so gewesen war, war es nur eine Frage der Zeit, bis die Bullen hier vor seiner Tür standen und unangenehme Fragen stellten.

      „Schöne Scheiße“, sagte er sich, und wie zur Zustimmung nickte er. Er stellte das Geklopfe ein, robbte noch einmal um den Wagen herum (wer weiß, vielleicht hatte er ja beim ersten Mal etwas übersehen?), richtete sich schließlich auf und ging langsam zurück ins Haus. Seine Schultern hingen so tief, dass man meinen konnte, sie schleiften über den Boden, sein Rücken war gekrümmt wie eine Sichel, und seine Arme schlackerten bei jedem Schritt wie Götterspeise. Auch seine Beine zitterten, aber das legte sich nach wenigen Schritten.

      Obwohl Paul nun schon eine Kanne Kaffee intus hatte, brauchte er unbedingt noch eine. Noch nie zuvor war sein Bedürfnis nach Kaffee so stark gewesen. Also kochte er sich

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