Die letzte Seele. Lars Burkart

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Die letzte Seele - Lars Burkart

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      Keine fünf Minuten später fuhr er lachend durch die Dunkelheit. Sein Gelächter klang hysterisch und es war so laut, dass es sogar den Motor übertönte. Er hatte echt eine Menge gebechert, aber seltsamerweise war von seinem Rausch nicht mehr allzu viel übrig. Jedenfalls empfand er es so. Er fühlte sich so nüchtern wie seit Tagen nicht mehr. Nicht nur das versetzte ihn in Euphorie – es kam auch noch hinzu, dass er sich fühlte, als könne er mit bloßen Händen Bäume ausreißen. Glatt zwanzig Jahre jünger. Ein geiles Gefühl.

      Irgendwo tief in seinem Inneren wusste ein verborgener Teil von ihm (sagen wir einfach, sein rationales Denken, okay?), dass er keineswegs nüchtern war, sondern sternhagelvoll. Und dieser tief verborgene Teil wusste auch, dass eine Menge schiefgehen kann, wenn man in diesem Zustand den Fehler beging, ein Fahrzeug zu lenken. Dieser niedliche, klitzekleine Teil hätte am liebsten laut gekreischt – wie eine Frau, der eine Spinne mit langen, eklig behaarten Beinen über den Weg läuft. Da dieser Teil nun aber nur ein niedliches kleines Bürschchen war, vollbrachte er nur ein Flüstern. Schließlich musste er gegen eine nicht unerhebliche Menge Rauschmittel und gegen fast ebenso viele körpereigene Endorphine ankämpfen, und das war für den kleinen Racker einfach zu viel. Egal, was er auch versuchte, um auf sich aufmerksam zu machen: Es reichte nicht, um bis zu Pauls Verstand durchzudringen. Was zu ihm durchkam, war nur die verräterische Stimme des Leichtsinns. Sie sprach so deutlich zu ihm, als säße sie auf seinen Schultern: Gib ruhig noch etwas mehr Gas! Los, komm schon! Oder traust du dich etwa nicht?

      Und ob Paul sich traute! Er packte das Lenkrad noch fester, klemmte die Whiskeyflasche zwischen die Oberschenkel und gab Vollgas.

      Wie ein Hurrikan sauste der Porsche durch die Dunkelheit. Die Geschwindigkeit wäre schon im nüchternen Zustand grob fahrlässig gewesen, da er aber alles andere als nüchtern war, war es mehr als nur wahnsinnig. Es war selbstmörderisch. Seine Reaktionen und Bewegungsabläufe waren beängstigend langsam. Um die Flasche an seinen Mund zu führen, brauchte er sagenhafte fünfundzwanzig Sekunden. Aber sein Zustand hatte trotz allem einen Vorteil: Er verschwendete weder an Jeannine noch an Jerome einen Gedanken. Einen kurzen Moment fragte er sich, wie er reagieren würde, wenn er sah, was Paul hatte mitgehen lassen. Aber das dachte er nur kurz, bevor er losgefahren war. Jetzt war auch das in weite Ferne gerückt.

      Der Porsche schoss wie ein Pfeil durch die Nacht und dröhnte und fauchte wie ein Jet. Gar kein so ungewöhnliches Geräusch, wenn nicht ständig das Getriebe aufgeschrien hätte, weil er beim Gangwechsel das Kuppeln vergessen hatte. Paul litt beinahe mit dem Getriebe mit und nahm sich fest vor, es beim nächsten Mal bestimmt zu tun. Aber als es dann soweit war, war der gute Vorsatz vergessen und das Getriebe kreischte und knirschte, als hätte es Sand als Schmiermittel.

      Mit einem Mal wurde es schwarz und still um ihn herum. Die Dunkelheit und Stille kamen so plötzlich, dass er erst gar nicht bemerkte, was da vorging. Als wäre er in eine andere Dimension gewechselt. Alles verschwand. Nichts war mehr da.

      Schläfrig blinzelte Paul. Alles um ihn herum war grell, als säße er direkt neben der Sonne. Etwas war ganz und gar nicht so, wie es hätte sein sollen. Aber im Moment bemerkte er davon noch nichts. Er spürte nur einen ungeheuren Druck auf seinem Körper lasten, ohne zu wissen, woher er kam.

      Paul schloss die Augen wieder; es war zu grell. Die gleißende Helligkeit drang sogar durch seine Lider. Es war so hell, dass er befürchtete zu erblinden.

      Der Druck verstärkte sich noch etwas, aber ohne seine Herkunft preiszugeben. Ihm wurde immer unheimlicher zumute. Nur ein klein wenig stärker, und ich werde zerquetscht wie ein Insekt! Lag er? Saß er? Oder stand er? All das entzog sich seiner Kenntnis. Und das ängstigte ihn so, dass er zitterte wie ein Kind in der Dunkelheit. Paul hatte noch nie zuvor solche Angst gehabt – und seien wir mal ehrlich: Es war auch verständlich. Schließlich weiß man immer, was man gerade tut. Ob man jetzt sitzt, liegt oder steht, man weiß es einfach. Es sei denn …

      Es sei denn, man ist tot.

      War er das vielleicht? War er gestorben?

      Seine Gedanken geisterten fieberhaft umher. Ist das möglich? Ist das möglich? He, du Idiot! Wann willst du denn deiner Meinung nach gestorben sein? Glaubst du nicht auch, dass du das bemerkt hättest? Aber ein anderer Teil seines Verstandes meinte: Was soll ich denn bemerkt haben? Denkst du etwa, der Tod kommt mit Pauken und Trompeten, um einen zu holen? Nein, der kommt lautlos und auf schnellen Sohlen, verrichtet sein Geschäft und zieht weiter zur nächsten bemitleidenswerten Seele, deren Zeit abgelaufen ist! So sieht’s aus, Alter, so und nicht anders! Also, was bitteschön, soll ich bemerkt haben?

      Wie lange sann er nun schon darüber nach? Waren es Sekunden? Waren es Tage oder sogar schon Jahrhunderte? Ihm kam es vor wie ein paar Sekunden. Aber konnte er sich dessen sicher sein? Vergeht die Zeit, wenn man tot ist (vorausgesetzt natürlich, es gibt dann noch so was wie Zeit) schneller? Oder langsamer? Niemand kann das beantworten. Die, denen es möglich wäre, schweigen, denn als Leiche schwätzt man bekanntlich nicht viel.

      Entgegen aller widrigen Umstände amüsierte ihn diese Vorstellung. In seiner Phantasie sah er sich in einem Eichensarg liegen, stilvoll gekleidet: schwarze, bis zur Perfektion geputzte Schuhe, in denen er sich hätte spiegeln können, tadellos gebügelter Anzug ohne kleinste Falte, und natürlich eine schwarze Krawatte. Wie sie sich mit dem Anzug vertrug! Eine Wucht. Sogar das streng nach hinten gekämmte Haar versprühte Klasse. Die Bartstoppeln waren sauber abrasiert; im Leben war es Paul nicht allzu oft gelungen, die Rasur unbeschadet zu überstehen …

      Seine Amüsiertheit ging langsam über in einen Lachanfall, und genau in diesem Moment dämmerte ihm, woher der seltsame Druck kam. Er hatte seinen Ursprung direkt unterhalb seiner Schädeldecke, und durch das Lachen wurde er verstärkt. Trotzdem war es schier unmöglich, damit aufzuhören. Der Drang war einfach unwiderstehlich. Vielleicht lachte er ja auch nur aus Erleichterung darüber, noch nicht den Löffel abgegeben zu haben?

      Eine Welle aus Schmerz stieg über ihn hinweg, und mit ihr stürzten Erinnerungsfetzen auf ihn ein. Sie waren klein und bruchstückhaft, aber da er ja momentan nichts anderes zu tun hatte, machte er sich daran, sie zusammenzufügen. Wer weiß, dachte er, vielleicht erfahre ich ja so, wo ich bin.

      Irgendwo vor sich sah er eine Straße. Sie war asphaltiert, links und rechts mit Begrenzungspfeilern markiert und schimmerte schwärzlich. Paul sah sie deutlich vor sich, konnte aber nicht erkennen, wohin sie führte. Bäume säumten ihren Rand, aber ob sie der Grund dafür waren, dass er ihrem Lauf nicht folgen konnte, wusste er nicht. Vielleicht lag es nur daran, dass es so dunkel war.

      Von irgendwoher tauchte ein Scheinwerferkegel auf und bohrte sich durch die Dunkelheit. Das Licht kam schnell näher, aber es war unschwer zu erkennen, dass es noch ein Stück entfernt war. Es war beängstigend zuzusehen, wie sich der Kegel lautlos seinen Weg durch die Dunkelheit bahnte. Wie ein Geist oder Irrlicht. Er bohrte sich durch die Dunkelheit, als wüsste er genau, wohin er wollte.

      Nach kurzer Zeit gesellte sich zu dem Licht ein Brummen. Anfangs hielt Paul es für einen Bären. Aber was sollte bitteschön ein Bär mit Licht anfangen? Also verwarf er den Verdacht. Allem Anschein nach war es ein Fahrzeug.

      Wieder verstrich einige Zeit.

      Mit einem Mal wurde das Brummen lauter, und auch der Lichtkegel hüpfte hektisch. Was auch immer es sein mochte, es war nicht mehr weit entfernt. Plötzlich richtete der Lichtstrahl sich genau auf ihn, als nähme er ihn ins Visier. Jetzt endlich erkannte Paul, dass das Licht von zwei nebeneinanderliegenden Lampen stammte. Weil sie ihn blendeten, sah er zu Boden, ein Reflex, er tat es unbewusst. Was aber jetzt geschah, war nichts als purer Überlebenswille.

      Paul riss die Augen auf. Sein Herz setzte aus. Unter seinen Füßen war Asphalt, vor ihnen war Asphalt, und neben ihnen ebenfalls. Da brauchte

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