Die letzte Seele. Lars Burkart
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Die letzte Seele - Lars Burkart страница 26
Die Finger seiner Rechten umfassten eine halbvolle Kaffeetasse, und zwischen denen der Linken qualmte eine filterlose Lucky. Es erstaunte ihn, wie schnell er wieder in seinen alten Trott gefallen war. Früher war er immer der Ansicht gewesen (und das war er jetzt wieder), dass nichts an den phantastischen Geschmack von Kaffee und Zigaretten herankäme. Jedes für sich war schon ein echtes Leckerli, aber gemeinsam gingen die beiden ein Duett ein, das noch um einiges besser war. Wie die zwei Stimmen einer bezaubernden Melodie gingen sie ineinander über. Da passte einfach alles. Er fragte sich ernsthaft, wie er so lange darauf hatte verzichten können.
Er schlenderte über den Flur und stimmte einen Singsang an. Sein Kopf war zum ersten Mal seit Stunden wieder frei. Er dachte kaum noch an die Fahrt mit dem Wagen und daran, was möglicherweise passiert war. Was kommen mochte, sollte kommen. Es lag nicht mehr in seiner Macht. Auch Jeannine war jetzt vergessen. Er war noch nie mit der Welt so im Reinen gewesen wie in diesem Moment.
Langsam öffnete er die Tür zum Arbeitszimmer (sein kreativer Bereich, wie er immer liebevoll sagte) und steckte den Kopf hinein. Es sah noch genauso aus, wie er es verlassen hatte. Alles lag wild verstreut herum. Außer der Palme war nichts verändert. Nur sah sie noch vertrockneter aus als zuvor.
Nachdem er alles inspiziert hatte und zu der Erkenntnis gekommen war, dass keine akute Gefahr bestand, trat er beruhigt ein. Schnurstracks steuerte er auf den Schreibtisch zu und verharrte mitten in der Bewegung. Sein Mund stand so weit offen, dass man einen Kürbis hätte hineinschieben können, und in seinem Gesicht zeigten sich tiefe Furchen. Es war nicht zu glauben. Einfach unmöglich. Oder vielleicht doch? Nein, unmöglich. Oder? Nein, nie!
Sein Gehirn ballte sich zusammen wie eine Faust, öffnete sich, ballte sich abermals zusammen und öffnete sich schließlich wieder. Es fühlte sich an, als würde es fast platzen, um gleich darauf wieder zusammenzuschrumpfen. War er einer Sinnestäuschung erlegen? Er schloss die Augen. In seinem Leben hatte er noch nicht allzu viel gebetet, doch jetzt tat er es. Obwohl er ungefähr ebenso viel an Gott glaubte wie ein Turnschuh. Er betete dafür, dass es verschwunden war, wenn er die Augen wieder öffnete.
Er wartete eine Sekunde.
Er wartete zwei Sekunden.
Dann öffnete er langsam erst das linke, dann das rechte Auge und lugte zwischen den Fingern hindurch. Es gelang ihm, ein verzweifeltes Seufzen solange zu unterdrücken, bis das rechte offen war. Denn schon als er das linke geöffnet hatte, war ihm klar, dass seine Gebete nicht erhört worden waren. Endlich löste sich die Sperre, und er setzte sich langsam in Bewegung, wie bei einem Spaziergang unter Wasser. So etwas Banales wie einen Fuß vor den anderen setzen kostete Kraft. Erschwerend kam noch hinzu, dass er mehr und mehr den Eindruck gewann, der Boden unter ihm würde wanken wie Schiffsplanken.
Ein paar Sekunden später (oder waren es Stunden?) erreichte er den Schreibtisch und kam, auf den Füßen wippend, vor ihm zum Stehen. In diesem Augenblick kam er sich vor wie ein Käfer: klein und schutzlos.
Seine Hand suchte Kontakt, machte sich eigenmächtig auf den Weg. Paul hielt den Atem an. Er war überzeugt, sich die Finger zu verbrennen, wenn sie die Oberfläche berührten. Die Sekunden, bis es soweit war, zogen sich hin wie Ewigkeiten. Innerlich wappnete er sich gegen den Verbrennungsschmerz. Er würde unerträglich intensiv und quälend sein.
Genau in dieser Sekunde berührten seine Fingerkuppen die Oberfläche, und er schrie auf. Es war noch schlimmer, als er es erwartet hatte. Aber nicht, weil es heiß war, sondern weil es vollkommen normal temperiert war. Hatte er etwas anderes erwartet? Sein Schreien ging über in leises Gelächter.
„Wie kommst dieser verfluchte Laptop zurück auf den Schreibtisch? Ich weiß doch genau, dass ich ihn vom Tisch gekickt habe! Und seitdem war ich nicht mehr hier drinnen. Wie also kommt er hier hoch?“
Er redete mit leiser, brüchiger Stimme. Und da er in dem Zimmer allein war, richtete er seine Frage an die vertrocknete Pflanze auf dem Fußboden.
Seine Finger glitten über die Tastatur hinweg und zitterten. Wer wusste, wie viele Stunden er auf sie eingedroschen und versucht hatte, einen einigermaßen brauchbaren Text aus ihr herauszuholen? An schlechten Tagen, wenn es nicht so gut lief, hatte er das verdammte Ding gehasst und an guten heiß und innig geliebt. Gott sei Dank hatte es mehr gute als schlechte Tage gegeben. All das führte er sich jetzt in Erinnerung und dennoch: Das Ding fühlte sich fremd an und schien ihm nicht mehr zu gehören. Ob das nun daran lag, dass es auf wundersame Weise den Weg zurück auf den Tisch gefunden hatte oder weil er ihm die Schuld dafür gab, dass Jeannette abgehauen war, wusste Paul nicht.
Während er noch darüber nachsann, sanken seine Finger plötzlich tiefer und drückten irgendwelche Tasten. Auch diesmal erschrak er. Ein Summen kam aus dem Gehäuse, und ein Text erschien auf dem Bildschirm.
„Aha“, flüsterte Paul etwas ruhiger. Schließlich war das etwas, was er verstand. Obwohl er zugeben musste, dass er gar nichts mehr verstand. „Bildschirmschoner also, soso.“
Wo kam der verdammte Text her? Er konnte sich weder daran erinnern, wann er den Laptop aufgehoben haben sollte noch, wann er in den letzten Tagen etwas geschrieben hatte. Obwohl ihm dies alles ein Rätsel war, konnte er nicht anders: Er musste den Text lesen.
Er hatte Mühe, die Schrift zu entziffern. Sie war viel kleiner als die, die er sonst zum Schreiben benutzte – vorausgesetzt natürlich, er war es gewesen, der den Text geschrieben hatte. Aber wer sollte es sonst gewesen sein? Wer?
Es war kalt. Viel zu kalt für die Jahreszeit. Der Wind pfiff eisig durch die dunklen Straßen, kroch in jede Ecke und Ritze, wirbelte Blätter auf und spielte damit sein Spiel. Nur vereinzelt standen ein paar Laternen auf den Straßen. Sie waren entweder kaputt oder zu schwach, um noch ihren Zweck zu erfüllen. Aber all das war unwichtig. Was einzig und allein zählte, war Jeannine und das, was sie trug.
Schon als sie um die Ecke bog (da war es noch etwas heller und nicht so kühl wie jetzt) hatte ihr Anblick ausgereicht, um bei ihm alle Sicherungen durchbrennen zu lassen. Und das, obwohl sie gar nichts Besonderes trug. Aber an einer schönen Frau sieht einfach alles atemberaubend aus. An den Füßen trug sie Stiefel, die ihr bis zu den Knien reichten; sie waren pechschwarz, und das weiße Futter schaute oben frech heraus. Ob sie eine kurze Hose trug oder einen kurzen Rock, war nicht ganz zu erkennen, denn ihre Jacke endete kurz über den Knien. Auch sie war pechschwarz, und ein Blinder mit Krückstock hätte sehen können, dass sie schon oft in der Waschmaschine gewesen war. Auf dem Kopf hatte sie eine Mütze, von der bunte Bommeln hingen wie lustige Zöpfe. Also alles durchaus normal, nichts Berauschendes. Aber, wie gesagt: Eine schöne Frau könnte auch einen zerlöcherten Kartoffelsack überziehen, sie würde einem trotzdem den Atem nehmen. Und Jeannine war eine wunderschöne Frau. Oh ja, das war sie. Sie hatte etwas an sich, das man nicht beschreiben konnte. War es dieses süße, unwiderstehliche Lächeln? Vielleicht. War es dieser tolle Körper? Dieser runde, wohlproportionierte Busen? Die herrlich prallen Pobäckchen? Die schönen langen Beine? Oder das Glitzern in ihren Augen? Man konnte sich nicht genau festlegen. Sie war einfach durch und durch eine Augenweide. Sie rannte mit den Armen wild wedelnd auf ihn zu und hüpfte auf und ab. Sogar das wirkte sexy.
Paul fand sich selbst nicht halb so anziehend. Er hatte die Hände in den Hosentaschen vergraben und in ein Schaufenster geguckt, in einen Blumenladen. Dass Grün der Blumen und Blätter hatte ihn an den Sommer erinnert. Er