Die letzte Seele. Lars Burkart
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Schwerfällig wie ein Greis richtete er sich auf, und sofort explodierte eine neue Schmerzwelle in seinem Kopf und Körper. Er quittierte es mit einem triumphalen Gelächter. Es klang wie das Siegesgeschrei eines Kriegsherrn, der nach jahrelangen blutigen Kämpfen endlich siegreich heimkehren kann.
Als er auf seinen Beinen stand, wirkte er wie ein neugeborenes Fohlen. Seine Beine knickten unter seinem Gewicht ein, und seine Arme wirbelten mal haltsuchend, mal ekstatisch durch die Luft. Alle diese Bemühungen begleitete er mit einem hysterischen Gelächter, das mit jeder Sekunde verrückter wurde. Langsam, als ginge er über dünnes Eis, lief er zur Küche. Obwohl es ihm Schwierigkeiten machte, lief er weiter. Irgendwann bekam er sogar den Eindruck, die Schmerzen würden nachlassen, das Brummen im Kopf verschwinden, die Muskelkrämpfe sich lösen. Aber wer weiß, vielleicht gaukelte ihm das sein Gehirn nur vor, weil es überlastet war?
Er öffnete die Kühlschranktür, schauerte kurz, als die herausströmende Kälte zu Boden fiel und seine Beine umspülte und griff beherzt hinein. Seine Bewegungen waren bereits flüssiger, geübter. Offensichtlich ging es ihm sekündlich besser. Während seine Hand über der Butterdose schwebte, überlegte er kurz, nickte dann zustimmend, griff noch tiefer hinein und förderte seinen Alkoholvorrat zu Tage. Und das war nicht gerade wenig. Er musste sogar ein paar Mal nachfassen. Schließlich war es geschafft, und sein gesamtes Arsenal an Bier, Schnaps und Wein stand auf der Spüle. Er hielte kurz inne und betrachtete das, was da vor ihm stand.
Allerdings sann er nicht allzu lange nach. Sein Entschluss stand ohnehin fest. Ohne mit der Wimper zu zucken, öffnete er sämtliche Verschlüsse und kippte alles in den Abfluss. Bald roch es in der Küche wie in einer Hafenbar.
Lange stand er so da und sah zu, wie die Getränke gurgelnd in der Dunkelheit verschwanden. Es tat ihm keineswegs leid, und er bereute es auch nicht im Geringsten. Im Gegenteil: Es machte ihn froh. Er lachte vor sich hin, gackernd wie ein Huhn.
Schließlich machte er sich daran, den Saustall aufzuräumen. Und das dauerte bis zum nächsten Abend. Er musste alle Scherben, alle zerrissenen Kissen und zerfledderten Gardinen aufsammeln und, soweit möglich, durch neue ersetzen. Er richtete die umgeworfenen Möbel wieder auf und topfte die Pflanzen um, die er in seiner Wut herausgerissen hatte. Es war ein hartes Stück Arbeit, dennoch pfiff er die ganze Zeit über fröhlich vor sich hin.
Als endlich alles gesäubert war, fiel er erschöpft in tiefen Schlaf. Er hatte ohne Unterbrechung fast sechsunddreißig Stunden gefegt, gesaugt, geputzt, gewischt und gebohnert. Seine Hände waren schwielig und mit Blasen übersäht.
Am nächsten Morgen erwachte Paul ausgeruht und fühlte sich frisch. Er frühstückte ausgiebig und ausnahmsweise sogar gesund, mit Müsli und Milch, duschte danach abwechselnd kalt und heiß und schlenderte ins Arbeitszimmer, wo er, ohne es richtig wahrzunehmen, das Notebook aufhob, einschaltete, das Schreibprogramm hochfuhr und schließlich auf die Tastatur eindrückte.
Das sollte schon fünf Tage her sein? Kinder, wie schnell die Zeit verging!
Und plötzlich war es wieder wie in alten Zeiten. Er schrieb täglich zwischen vier und sieben Seiten und schaffte es nebenbei sogar noch, ein Buch zu lesen. Abends ging er kurz vor Mitternacht ins Bett, stand früh um acht auf, aß etwas und schrieb dann weiter. Yeah, wie in den guten alten Zeiten, verdammt! Es ging doch nichts über einen geregelten Tagesablauf!
Paul starrte wie gebannt auf den Bildschirm. Der Cursor blinkte und spuckte Buchstabe um Buchstabe aus. Auch das Jucken und Kribbeln in seinen Händen war verschwunden. Auf dem Schreibtisch neben ihm stand ein übervoller Aschenbecher, in dem eine Zigarette qualmte. Ab und zu griff er nach ihr, ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden, und nahm einen kräftigen Zug. Er hatte den Rauch noch gar nicht richtig ausgestoßen, da sponn er auch schon weiter.
Hätte er nur ansatzweise geahnt, was er damit in Bewegung setzte, wären seine guten Vorsätze augenblicklich vergessen gewesen. Dann wäre er binnen weniger Tage zum hemmungslosen Alkoholiker geworden.
Es war ein Wunder, dass Sabine keine schweren Verletzungen erlitt, als sie mit ihrem Pferd stürzte. Das Glück schien diesmal auf ihrer Seite zu sein. Leider konnte man das bei dem Pferd nicht behaupten: Es musste eingeschläfert werden. Seine Knochen waren gleich an mehreren Stellen gebrochen und drei Rippen zersplittert. Es tat ihr zwar im Herzen weh, doch es war bestimmt das Beste für das arme Tier. Doch als es dann schließlich so weit war, konnte sie den Anblick nicht ertragen und flüchtete aus dem Stall. Sabine hatte sehr an dem edlen Tier gehangen und ihr war, als ginge ein guter Freund für immer von ihr.
Sie hastete durch den nahen Wald, der die nördliche Grenze des Grundstücks bildete und ließ seinen kühlen Schatten schnell hinter sich. Sie rannte und rannte, vorbei an Wiesen und Feldern, bis sie das Meer erreichte.
Die Küste war an dieser Stelle nichts als eine Felswand, die steil ins Meer stürzte. An ihrem steinigen Fuß brachen sich die Wellen, und an ihrem Scheitelpunkt blies steifer Nordwind. Alles in allem nicht unbedingt ein gemütlicher Ort. Es gab noch nicht einmal einen Weg, auf dem man zwischen den mannshohen Gesteinsbrocken gefahrlos hätte gehen können. Dennoch liebte sie diese Stelle. Hierher verirrte sich kaum eine Menschenseele und wenn doch, nahm sie angesichts der rauen Umgebung schnell wieder Reißaus. Hier war das letzte Fleckchen Erde, das Sabine für sich allein haben konnte. Immer, wenn sie etwas plagte, etwas verunsicherte, sie sich ängstigte oder sie einfach nur in Ruhe nachdenken wollte, ging sie hierher und lauschte dem Rauschen des Windes und dem Toben der Brandung.
Sabine kannte den Platz seit ihrer Kindheit. Seit sie als kleines Mädchen zum ersten Mal mit ihrem Vater hier gewesen war, hatte der Ort nichts von seinem Reiz verloren. Die Ruhe, das Pfeifen des Windes, das Kreischen der Möwen, all das war ihr ans Herz gewachsen. Und sie wollte keinen dieser Momente missen. Wie oft hatten sie hier oben gesessen, ihr alter Herr und sie, hatten aufs Meer hinausgesehen und hinter den Schiffen her, bis sie am Horizont verschwanden? Wie oft? Sie wusste es nicht. Es mussten unzählige Male gewesen sein. Manchmal hatten sie einfach nur geschwiegen und die raue Schönheit in sich aufgesogen.
Sabine konnte sich noch gut an den Moment erinnern, da sie den Vater gefragt hatte, wohin all die Schiffe verschwanden, wenn sie nicht mehr zu sehen waren. Sie hatte tatsächlich geglaubt, sie versänken im Ozean. Der Vater fuhr ihr liebevoll mit der Hand über den Zopf; das tat er immer, wenn er ihr etwas erklären wollte. Es war seine Art, nach Worten zu suchen. Er musste ihr oft etwas erklären, denn Sabine war ein neugieriges Kind. So erfuhr sie, dass die Erde eine Kugel war und die Schiffe keineswegs im Meer versanken, sondern einfach nicht mehr zu sehen waren, weil sich zwischen sie und das Schiff die Krümmung der Erdoberfläche schob.
„Du musst es dir ungefähr so vorstellen“, hatte er gesagt, „wenn du am Fuß eines Berges stehst, kannst du auch nicht über ihn hinweg auf die andere Seite sehen. Und genauso ist es mit den Schiffen: Die Erde, in diesem Fall das Wasser, ist im Weg.“